Der tibetische Stupa - Teil 1von Eva PreschernStupas - uralte Symbole des erleuchteten Geistes - gibt es im buddhistischen Asien seit über 2500 Jahren. Ihr Ursprung liegt in Indien, von wo sich der Buddhismus im Laufe der Jahrhunderte über ganz Asien verbreitet hat. Dort, wo der Buddhismus Wurzeln schlug, wurden nach und nach Stupas - die man auch Tschörten, Thupa, Cai tya, Pagode, Dagoba usw. - nennt, errichtet. Dieser Tendenz folgend, werden jene faszinierenden Bauwerke etwa seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in der westlichen Welt gebaut. Einer der Schwerpunkte der Errichtung von tibetischen Stupas liegt bei den von Lama Ole Nydahl und seiner Frau Hannah im Auftrag des 16. Gyalwa Karmapa gegründeten Diamantwegzentren. 1994 wurde ein sehr kraftvoller Kalachakra-Stupa, eine tantrische Stupaform, von der es weltweit nur sehr wenige gibt, in Karma Gön (Velez-Malaga/Spanien) errichtet. Das war der Beginn einer regen Bautätigkeit unter der Leitung des sehr erfahrenen bhutanesischen Meditationsmeisters Lopön Tsechu Rinpoche (1918-2003). Gemeinsam mit dem Architekten Wojtek Kossowski und Rinpoches langjähriger Schülerin Maggie Kossowski errichtete dieser insgesamt 18 Stupas an verschiedenen Stellen im Westen. Das wohl beeindruckendste Beispiel ist der größte Stupa Europas, ein 33 Meter hoher begehbarer Erleuchtungsstupa an der Küste Andalusiens. Lopön Tsechu Rinpoche ist es zu verdanken, dass viele Menschen im Westen bereits einen Stupa gesehen haben, ihn im Uhrzeigersinn umrundet, seine Energie gespürt, in seinem Schatten meditiert oder ihm sogar Geschenke gemacht haben. Da kommen unweigerlich Fragen auf: Warum fühlen wir uns so sehr von Stupas inspiriert? Was ist ein Stupa überhaupt? Wo kommt er her? In diesem Artikel liegt der Schwerpunkt vor allem auf dessen Bedeutung und Funktion, im 2. Teil (nächstes BH) wird es um seinen historischen Ursprung, seine Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte und die modernen Stupas des 20. Jahrhunderts gehen. Es gibt verschiedene Herangehensweisen, sich diesem sehr umfangreichen Thema zu nähern. Am unmittelbarsten bekommt man den Sinn und die Bedeutung des Stupas vermittelt, wenn man bei einem Stupaprojekt mitarbeitet. Hat man das große Glück, bei so einem Projekt unmittelbar in den Arbeitsprozess involviert zu sein, bekommt man mündliche Anweisungen und Informationen vom Stupa-Meister selbst. Man erfährt zum Beispiel direkt, wie man die Füllung vorbereitet, was es heißt, tausende von Tsatsas (Buddhareliefs und kleine Stupas aus Gips) zu gießen und Mantrarollen herzustellen. Diese Art der Übertragung ist wirklich unschlagbar, und kein noch so kluges Buch kann diese Erfahrung übertrumpfen. Lopön Tsechu Rinpoche hat während des Stupabaus in Graz 1998 deutlich gemacht, dass der Schwerpunkt generell auf unserer Meditationspraxis liegen soll. Auf die Bitte hin, er möge doch mehr zur Bedeutung des Stupas sagen, meinte er sinngemäß, wir sollten nicht so viele Fragen stellen, sondern meditieren. Hier wird deutlich, dass man die letztendliche Bedeutung des Stupas nur durch die Arbeit mit dem eigenen Geist erfahren kann. Erklärungen können diesen Prozess sehr gut unterstützen, nur sollten wir dabei klar unterscheiden, woher wir unsere Informationen beziehen. Der praktizierende Buddhist wird die Lehren Buddhas, die in ungebrochener Űbertragung von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurden, bzw. die Aussagen verwirklichter Meister für wichtiger halten. Es existieren jedoch auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die vor allem auf der Forschung rund um archäologische Ausgrabungen, bestenfalls unter Einbeziehung von Űbersetzungen buddhistischer Texte beruhen. Kann man diese beiden Zugänge klar voneinander unterscheiden und vermischt nicht die erfahrungsbetonte Insider-Sicht (Buddhas Lehren) mit der wissensbetonten Outsider-Sicht (Wissenschaft und Forschung), dann ist man bestens gerüstet für das sehr spannende, vielschichtige Studium rund um Stupas und es eröffnet sich einem eine faszinierende Welt voll unglaublicher Tiefe und Schönheit. Das gilt natürlich auch für alle anderen Bereiche innerhalb der buddhistischen Kunst. Weil es schwierig ist, an die schriftlichen Quellen heranzukommen, folgt hier ein kurzer Űberblick. Die ältesten Erklärungen zur Form und Bedeutung des buddhistischen Stupas stammen nach indischen und tibetischen Quellen von Buddha selbst. Im Kangyur (Buddhas direkte Lehren) und Tenyur (den Kommentaren der indischen Meister) gibt es einige Berichte, die sich mit dieser Thematik befassen. Tibetische Meister wie Butön Rinchen Drub (1290-1364), Desi Sangye Gyatso (1653-1705), der 1. Jamgön Kongtrul (1813-1899) usw. haben basierend auf den alten indischen Texten, in denen man etliches zum Thema Stupa-Architektur findet (zum Beispiel im Kommentar zum Vimalosnisa) die tibetische Stupaform, das heißt ihre Proportionen, schriftlich festgehalten. Bis in heutige Zeit hält man sich an diese Standards, von denen gesagt wird, sie gehen direkt auf Buddha zurück. Für die Karma-Kagyü-Linie sehr wertvoll ist ein Text des 15. Karmapa Khakyab Dorje (1871-1922) über Stupa-Proportionen. In dem Buch "Principles of Tibetan Art" von Gega Lama, einem Meister des Karma-Gardri-Stils, findet man neben den Anweisungen für Thangka-Maler auch Erklärungen zu Stupa-Proportionen, die auf den Gelehrten Threnkawa Lodrö Sangpo (16. Jahrhundert) zurückgehen. Űber die Bedeutung von Stupas gibt es ebenfalls verschiedene Erklärungen in alten indischen Quellen. Tibetische Gelehrtehaben zahlreiche Texte zu diesem Thema verfasst, die jedoch größtenteils noch nicht übersetzt sind. Vom 1. Jamgön Kongtrul gibt es einige bereits zugängliche Erklärungen, auf die später eingegangen wird. Will man etwas mehr über den Hintergrund der wissenschaftlichen Sichtweise erfahren, gibt es zahlreiche Bücher, Artikel und Forschungsberichte über Stupas, meist in englischer Sprache (siehe Liste mit einer Auswahl an Büchern am Ende des Artikels). Die Ursprünge der Stupa-Forschung liegen im Gebiet des heutigen Pakistan und Afghanistan. Namhafte Forscher der ersten Stunde waren unter anderem der Franzose Charles Masson, der den 1810 entdeckten Stupa von Mānikyāla erforschte, und der Deutsche Carl Ritter, der 1838 die erste Monographie über Stupas verfasste und sich dabei unter anderem auf die Reiseberichte des chinesischen Pilgers Fa-Hsien stützte. Eine weitere große Studie stammt von dem Engländer Alexander Cunningham (1854), dem bereits Űbersetzungen von Texten und weitere Ausgrabungsergebnisse zur Verfügung standen. Großen Einfluss auf die Erforschung des Stupas hatte auch Alfred Foucher (Paris 1909), der über Funktion, Bedeutung, formale Gestaltung und Konstruktionsweise der Stupas in Gandhara schrieb. Da die vollständige chronologische Aufzählung von Experten den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, sei hier neben vielen anderen noch Guiseppe Tucci erwähnt, der 1932 ein maßgebliches Werk über Stupas verfasst hat. Um noch einige Veröffentlichungen jüngeren Datums zu nennen: Adrian Snodgrass (1985) hat in seinem sehr umfassenden Buch über Stupa-Symbolik eine Vielzahl von Quellen vereint - westliche Publikationen, indische Texte und japanische buddhistische Studien. Leider ließ er den tibetischen Buddhismus weitgehend unberücksichtigt. Heino Kottkamp (1992) bereicherte die Stupa-Forschung mit einem umfassenden Werk, das über die Entstehung und Entwicklung architektonischer Symbolik Auskunft gibt. Will man dieses Thema weiter vertiefen, so gibt es noch speziellere Literatur, wie zum Beispiel Yael Bentor (1996), die über die Einsegnung von Bildwerken und Stupas forscht und Beatrice Amar (2006), die ihre Magisterarbeit über Stupa-Füllung geschrieben hat. Ein weiteres sehr empfehlenswertes Buch zum Thema tibetischer Stupa stammt von Pema Dorje (1996). Je mehr Literatur über Stupas auf den Markt kommt, desto verantwortungsvoller muss mit diesem Wissen umgegangen werden. Will man einen Stupa bauen, so hängt das von der Leitung eines erfahrenen Stupa-Meisters wie zum Beispiel Sherab Gyaltsen Rinpoche, ab. Nur durch dessen Anweisungen wird sichergestellt, dass der Stupa auch im Sinne des Buddha "funktioniert". Ohne seine mündlichen Übertragungen und Segnungen wäre der Stupa zwar ein durchaus hübsch anzusehendes aber inhaltsleeres Bauwerk. Das bringt uns zu dem Thema der eigentlichen Bedeutung eines Stupa. Stupa ist ein Sanskritwort und bedeutet "Haarknoten", oder allgemein der "obere Teil des Kopfes", aber auch "Ansammlung von Steinen und Erde". Stupas gab es bereits in vorbuddhistischer Zeit, sie haben sich wohl aus Grabhügeln entwickelt und waren ursprünglich Grabmonumente für Universalherrscher und Großkönige (cacravartin) des indischen Altertums. Im Mahāparinirvānasūtra wird beschrieben, dass Buddha von seinem Schüler Ānanda gefragt wurde, wie man nach Buddhas Tod mit seinem Leichnam umgehen solle. Buddha hat geantwortet, man solle dabei wie mit den sterblichen Űberresten eines Weltenherrschers verfahren, nämlich die Reliquien nach der Einäscherung seiner zuvor in Stoffbahnen eingehüllten und in einen Sarg gebetteten Gebeine in einem Stupa deponieren. Buddha übernahm also ein damals übliches Bestattungsritual, gab aber gleichzeitig dem vorbuddhistischen Stupa eine grundlegend neue Bedeutung, nämlich: "Basis, um Geschenke zu machen". Der tibetische Begriff "Tschörten" (tib.: mchoed rten) trifft diese Bedeutung wortwörtlich: mchoed heißt übersetzt Geschenk und rten Basis. Die Hauptbedeutung eines Stupas besteht demnach darin, ein Symbol für Erleuchtung zu sein, dem man Geschenke geben und dadurch Verdienst, das heißt positive Eindrücke im Geist ansammeln kann. Hierzu gibt es im Sutra des Abhängigen Entstehens die Erzählung, wie Liebevolle Augen (tib.: Tschenresig) Buddha sinngemäß gefragt hat: "Wie können denn die unzähligen Wesen so viel Verdienst ansammeln, dass sie Befreiung und Erleuchtung erreichen?" Buddha antwortete, man solle eine Basis für Geschenke bauen, einen Tschörten, und ihm stellvertretend für Buddha Geschenke machen. So würde man sehr viele gute Eindrücke ansammeln und der Geist würde dadurch extrem freudvoll. Es wird gesagt, dass wenn man den Stupa nicht nur als äußeres Bauwerk versteht, sondern darüber hinaus erkennt, dass er auf die Natur des eigenen Geistes hinweist - die Buddhanatur - dann wird man in der Folge Befreiung und Erleuchtung erlangen. Der Grund, warum dieses Thema unter dem Titel "Abhängiges Entstehen" (tib.: rten‘brel) erklärt wird ist, dass durch das Geben von Geschenken an die Erleuchtung Glück bringende Umstände geschaffen werden, die auf dem Gesetz des Abhängigen Entstehens basieren. Dieses universale Gesetz bedeutet, dass es nichts voneinander Unabhängiges innerhalb des gesamten Universums gibt, oder anders ausgedrückt, dass alle Dinge in irgendeiner Weise miteinander verbunden sind. Die gesamte Form sowie die einzelnen Teile des Stupas drücken dieses Gesetz in vielfältiger Weise aus. Genauere Erklärungen hierzu findet man im Reissprössling-Sutra. Auch wenn man das Abhängige Entstehen noch nicht vollständig erkannt hat, erfährt man eine unmittelbare Rückwirkung im Geist, wenn man dem Stupa Geschenke macht. Die Verwendung als Symbol für Erleuchtung ist der Weg dahin. Weitere Glück verheißende Umstände im Zusammenhang mit der Errichtung eines Stupas sind:
Falls die Anweisung Buddhas zum Abhängigen Enstehen zu abstrakt sein sollte, kann man sich den oberen Teil des Stupas auch in der Form des sitzenden Buddha vorstellen. Beim 1. Jamgön Kongtrul findet man im Schatz des Wissen (Shes bya mdzod, Band 2, Kapitel 6.1., Seite 280) sinngemäß folgende Erklärungen: Der Buddha sitzt im Lotussitz auf einem Thron, die quadratische Basis des Stupas entspricht dem Löwenthron des Buddha. Die vier Stufen oberhalb des Thrones stellen Buddhas Beine gekreuzt im Lotussitz dar. Vom Nabel an kann man die Vase als Buddhas Oberkörper sehen. Die Nische oder das Fenster, in der oftmals eine Statue platziert wird, ist auf Buddhas Herzenshöhe. Der kleine quadratische Aufbau (skt.: harmikā, tib.: bre) stellt Buddhas Gesicht, bzw. seine Augen dar, die in alle Richtungen schauen können. Auf den nepalesischen Stupas sind oftmals tatsächlich auch auf allen vier Seiten Augen gemalt. Der konische Aufbau der 13 Ringe stellt Budhhas ushnīsha (skt.), die Erhebung auf seinem Kopf, dar. Der oberste Schirm stellt ein königliches Emblem dar, und die abschließenden Elemente Mond, Sonne und Juwel sind Zeichen seiner Erleuchtung. Der Lebensbaum, die zentrale Achse des Stupas, stellt Buddhas inneren Zentralkanal dar. Das Abhängige Entstehen ist sehr komplex, die Kernaussage des Reissprössling-Sutras ist: Wer das Abhängige Entstehen versteht, versteht den Dharma und wer den Dharma versteht, versteht Buddha, den erleuchteten Geisteszustand. In diesem Zusammenhang kann man den Stupateilen die fünf tibetischen Elemente zuordnen. Die ganze äußere Welt und ebenso unser eigener Körper bestehen aus den fünf Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Erkennt man die reine Form dieser fünf Elemente, so verwirklicht man die fünf Buddhafamilien und erlangt so Erleuchtung. Es bedeutet das Erkennen der fünf reinen Aspekte des Körpers und des Geistes. Erleuchtung drückt sich in unterschiedlichen Formen aus. Alle Buddhaaspekte, die Buddha Shakyamuni lehrte, können in die fünf Buddhafamilien zusammengefasst werden. Und als Essenz dieser fünf Familien wiederum kann Buddha Diamanthalter (tib.: Dorje Chang) betrachtet werden, die tantrische Form von Buddha Shakyamuni selbst. Beim 1. Jamgön Kongtrul finden wir die klassischen Erklärungen, dass die Symbole des Buddha als Behälter bzw. Grundlagen (tib.: rten) von Körper, Rede und Geist zu verstehen sind.
Da der Stupa den Geist des Buddha ausdrückt und dieser wiederum durch die Gemeinschaft der Praktizierenden symbolisiert wird, ist es logisch einen engen Zusammenhang zwischen Stupa und Sangha herzustellen. Der Stupa symbolisiert die Sangha, die Gemeinschaft der Praktizierenden. Man findet einen kleinen Stupa auf jedem klassischen Altar aller Buddhisten rund um die Welt, die Zuflucht nehmen zu Buddha, zu seinen Lehren und zur Sangha, den verwirklichten Freunden auf dem Weg (= Gemeinschaft der Praktizierenden). Als Symbol für Buddha verwendet man eine Buddhastatue, für seine Lehren kommt ein Text auf den Altar und stellvertretend für Sangha wird ein Miniatur-Stupa aufgestellt.
Es zeigt sich bei der Durchführung eines Stupa-Projektes sehr deutlich, dass der Stupa ein Symbol für die Freunde auf dem Weg ist. Hat sich ein Zentrum entschlossen, einen Stupa zu bauen, ist einerseits eine starke Sangha notwendig, damit das Projekt überhaupt durchgeführt werden kann und andererseits wird die Freundschaft innerhalb der Gemeinschaft der Praktizierenden sehr gestärkt. Wie oben erwähnt, ist die Hauptbedeutung des Stupas, eine Basis für Geschenke zu sein. Man macht dem Stupa stellvertretend für Buddha Geschenke und erfährt dadurch eine unvorstellbar starke positive Rückkopplung im eigenen Geist. Das Schenken und das Umschreiten des Stupas im Uhrzeigersinn sind bereits Formen von Praxis, durch deren Ausführung jeder zu einem Praktizierenden (Mitglied der Sangha) wird. Man kann bei der Erklärung auch sehr ins Detail gehen, denn jeder Teil des Stupa symbolisiert einen Schritt auf dem Weg zur Erleuchtung. Er weist den Praktizierenden, der einem stufenweisen Weg folgt, auf eine Stufe seiner persönlichen Entwicklung hin. Nach Gega Lama ist der Erleuchtungsstupa in drei Abschnitte unterteilt: Der unterste Bauteil ist in Form eines quadratischen Sockels gebildet, der so genannte Löwenthron (tib. seng khri), der die Grundlage für die Erleuchtung bildet. Darüber erhebt sich der eigentliche Stupa, der in zwei Teile gegliedert ist. Der untere Bereich, von den vier Stufen, der Vase bis zum kleinen quadratischen Teil (tib. bre) ist der Ursachenstupa (tib. rgyu ‘i mchod rten). Er zeigt die Ursachen für die Erleuchtung. Die Stupaspitze ab den Ringen zeigt das Resultat, also die Erleuchtung selbst und wird Resultatstupa (tib. ‘bras bu‘i mchod rten) genannt. Vom 1. Jamgön Kongtrul gibt es Erklärungen zu den 21 Teilen des Erleuchtungsstupa, in der er jede Stufe genau beschreibt. Es beginnt mit den meist im Boden vergrabenen oder ins Fundament eingelassenen Schatzvasen, die die Körperqualitäten des Buddha symbolisieren, setzt sich fort in der grundlegenden Ebene, die die zehn positiven Handlungen von Körper, Rede und Geist beschreiben, bis zur Zuflucht (Buddha, seinen Lehren und die Gemeinschaft der Praktizierenden) die durch drei kleine Stufen repräsentiert sind. Der Löwenthron symbolisiert die Vier Furchtlosigkeiten eines Buddha, die beiden kleinen Stufen am oberen Rand stellen zwei Lotusscheiben dar und symbolisieren die Sechs Befreienden Handlungen (skt.: Paramitas). Die den Thron oben abschließende Platte drückt in den Ecken die Vier Unermesslichen - Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut aus. (Es gibt auch Erklärungen, in denen die ersten vier Stufen oberhalb des Thrones die Vier Unermesslichen symbolisieren.) Oberhalb des Löwenthrons, der wie oben bereits erwähnt die Grundlage für die Erleuchtung zeigt, setzt nun der eigentliche Stupa an und drückt den stufenweisen Weg in Form der Fünf Wege aus. Die ersten drei Stufen stehen für den Weg der Ansammlung, die vierte Stufe und die Basis, die die Vase trägt, symbolisiert den Weg der Verbindung, und die Vase selbst entspricht den "Sieben Zweigen des Erwachens" auf dem "Weg des Sehens". In der Vase befindet sich in einer kleinen Nische eine Buddhastatue, die ebenfalls einen Aspekt auf dem Weg des Sehens ausdrückt, nämlich das Erkennen der Natur des Geistes, was für die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten steht. Der kleine quadratische Teil oberhalb der Vase (tib.: bre) entspricht der 2.-10. Bodhisattvastufe und symbolisiert den Achtfachen Pfad der Edlen auf dem Weg der Meditation. Ab den 13 Ringen wird der Weg des Nicht-mehr-Lernens beschrieben, was bereits die Erleuchtung ausdrückt. Die 13 Ringe symbolisieren die zehn Aspekte der Weisheit eines Buddha und das Wissen der drei Zeiten, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der schützende Schirm zeigt das Űberwinden allen Leidens, die Girlanden die hervorragenden Eigenschaften des Buddhazustandes. Der obere Abschluss des Stupas besteht aus Mond, Sonne und Juwel. Der Mond symbolisiert den relativen Erleuchtungsgeist und die Weisheit eines Buddha, die Sonne das unbegrenzte Mitgefühl und den absoluten Erleuchtungsgeist. Das Juwel drückt die unzerstörbare Natur des Geistes und die Erfüllung aller Wünsche, das Klare Licht des Geistes aus. Im Inneren des Stupas befindet sich als zentrale Achse ein Lebensbaum, er symbolisiert verschiedene Aspekte der Weisheit eines Buddha (siehe Manfred Seegers, BH 23, 1997). Von oben betrachtet erkennt man den Stupa als Kraftkreis des Buddha (skt.: Mandala), die reine Verkörperung eines perfekten Universums. Mandala (tib.: dkyil khor) heißt übersetzt "Zentrum und Umgebung". Wir kennen Mandalas als geometrische Strukturen, die auf tibetischen Rollbildern dargestellt sind. Man kann ein buddhistisches Mandala als die zweidimensionale Darstellung eines dreidimensionalen Buddhapalastes verstehen. Die geometrisch angeordneten Linien entsprechen dem Grundriss, oder dem Bauplan, des Licht- und Energiepalastes des Buddha. Das Prinzip eines erleuchteten Mandalas wird durch den Buddhaaspekt im Zentrum ausgedrückt. Die ihm zugeordneten Aspekte stehen für die vielfältige Anwendung dieses Prinzips. In derselben Weise folgt jeder Stupa der Mandalastuktur, jedoch bereits in dreidimensionaler Form. Das Zentrum bildet die zentrale Achse, der sogenannte Lebensbaum, der sich aufrecht stehend in der Mitte des Stupas befindet. Der Lebensbaum ist gleichzusetzen mit dem Zentralkanal im Körper und findet sich auch in gefüllten und gesegneten Buddhasta Buddhastatuen. Der Lebensbaum, an dem Mantras für Körper, Rede, Geist und bei ganz großen Stupas bzw. Statuen auch für Qualitäten und Aktivitäten aufgemalt und gebunden sind, bildet das Zentrum des Kraftkreises. Die nach genauen Angaben des Stupa-Meisters vorbereitete und angeordnete Füllung und der Stupakörper selbst bilden die Umgebung. Somit ist ein Stupa ein perfektes Universum in sich. Der Stupa-Füllung kommt ganz besondere Bedeutung zu. Sie besteht aus sehr vielen, kostbaren Bestandteilen, wie Statuen, Mandalas, Rezitationsformeln, buddhistischen Texten, Tsatsas (Buddhaaspekte und kleine Stupas aus Gips), Reliquien spiritueller Meister usw., die begleitet von speziellen Ritualen vom Stupa-Meister in den Stupa gegeben werden. Die abschließende Einsegnung des Stupas nennt man auf Tibetisch Rabne (rab gnas). Hier lädt der Stupa-Meister, meist gemeinsam mit allen Teilnehmern, die Buddhas ein, im Stupa Platz zu nehmen. Ab diesem Zeitpunkt "arbeitet" der Stupa und das Kraftfeld der Buddhas zum Wohle alles Wesen ist aktiv. Ganz herzlichen Dank an Manfred Seegers für seine Beratung und Korrekturen.
Eva Preschern, geb. 1968, hat in Graz Kunstgeschichte studiert und die Magisterarbeit dem Thema Stupas gewidmet, lebt und arbeitet nun in Hamburg. |
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