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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 45, (Sommer 2008)

Der Buddha und die "Outcasts"

Teil 2: Die Wiederbelebung der Lehre im Ursprungsland durch frühere Kastenlose

(In der letzten Ausgabe u. a.: Indien zur Zeit des Buddha - Grundlagen des indischen Kastensystems - Griechischer Einfluss auf die frühe buddhistische Kultur - König Ashoka verbreitet die Lehre - Die drei Phasen des indischen Buddhismus - Verfall des Buddhismus in Indien)

Indien wird britische Kolonie
Die Herrschaftsverhältnisse in Indien gestalten sich zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert wechselhaft. Im Norden des Landes gründen die Nachfahren muslimischer Invasoren aus Zentralasien das Sultanat von Delhi. Nach dessen Verfall etabliert sich mit dem Mogul-Reich ebenfalls eine größere Herrschaft unter muslimischer Führung. Unterschiedliche hinduistische Fürstentümer regieren zumeist im Süden. Mit der Entdeckung des Seeweges nach Indien durch die Europäer im 16. Jahrhundert bricht auch für Indien ein neues Zeitalter heran. Nacheinander sichern sich Portugiesen, Niederländer, Engländer und Franzosen Stützpunkte an der Küste des Landes. Auch Dänemark ist einige Jahrzehnte lang mit zwei Handelshäfen vertreten.

Das Hauptinteresse der Europäer gilt zunächst dem Handel - vor allem mit den begehrten indischen Gewürzen, aber auch anderen Waren. Britische und niederländische Kaufleute gründen 1600 bzw. 1602 so genannte "Ostindien-Kompanien": Zusammenschlüsse von Händlern, die mit bewaffnetem Schutz unter der Flagge ihres Landes fahren, aber weitgehend den Gedanken des Freihandels ohne staatliche Einmischung verfolgen. An eine Ausdehnung des Einflusses ins Hinterland oder Machtausübung denken die Europäer zunächst nicht: Hauptsache, der Warenaustausch in den Häfen funktioniert. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte ändert sich dies. Die immer stärker werdende Konkurrenz unter den westlichen Geschäftsleuten, die sich allmählich wandelnde Mentalität der europäischen Indienfahrer sowie instabile Herrschaftsverhältnisse des in viele Kleinfürstentümer zersplitterten Indien sind dafür verantwortlich. Insbesondere Briten erschließen neue, lukrative Märkte im Landesinneren. Die Franzosen werden mit militärischer Gewalt verdrängt. Ihnen verbleiben, wie den Portugiesen, nur wenige Handelshäfen an der Küste des Landes. Die niederländischen Kaufleute weichen weiter östlich nach Indonesien und anderswohin aus.

Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die britische Seemacht schließlich zur Landmacht. Indische Provinzfürsten werden mit Wohlstand und anderen persönlichen Vorteilen dafür belohnt, dass sie die britischen Handelsadministratoren gewähren lassen. Bald werden die ersten Fürstentümer, die sich der britischen Vereinnahmung widersetzen, eingezogen. Das System von "Teile und Herrsche" sollten die Briten später so weit vervollkommnen, dass sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts scheibchenweise die Regierungsgewalt über den ganzen Subkontinent erlangen. Im Zuge der insgesamt erstaunlich "freundlichen" Eroberung verstehen britische Stellen früh, wie nützlich es für ihre Ambitionen ist, die Kultur und Geschichte Indiens besser kennen zu lernen.

1771 ernennt die Britische Ostindienkompanie mit Warren Hastings (1732-1818) erstmals einen Gouverneur für Bengalen; drei Jahre später wird er zum ersten General-Gouverneur für das ganze damalige Britisch-Indien erhoben. Zu seinen Aufgaben gehört der Aufbau eines Rechts- sowie Verwaltungssystems nach britischem Muster. Hastings schickt junge Kolonialbeamte aus, damit sie bei Brahmanen die alten und neuen Sprachen des Landes lernen. Zur Unterstützung der wissenschaftlichen Aktivitäten wird 1783 in Kalkutta die "Asiatische Gesellschaft" ("Asiatic Society", später "Asiatic Society of Bengal") gegründet.

Die Beschäftigung mit dem alten Indien macht einige der meist vielseitigen Nachwuchsbeamten zu leidenschaftlichen Forschern. William Jones (1746-1794) weist 1786 nach, dass es zwischen Sanskrit einerseits und dem klassischen Latein, Alt- Griechisch und den germanischen Sprachen andererseits eine enge sprachliche Verwandtschaft gibt. (Inzwischen weiß man, dass von den heute gesprochenen Sprachen Litauisch [!] dem klassischen Sanskrit am nächsten kommt.) Sprachwissenschaftler, Ethnologen, Historiker, Naturkundler und Archäologen beginnen nach gemeinsamen Wurzeln der indischen und der europäischen Zivilisationen zu suchen. Der Hinduismus stößt auf Interesse, macht aber auf die recht nüchternen Briten einen eher exotischen Eindruck. Bald entdecken sie Überreste einer anderen, lange in Vergessenheit geratenen Weltanschauung: Den Buddhismus.

Wiederentdeckung der Lehre in Indien
1785 wendet sich ein Expeditionsreisender an die Asiatic Society mit der Bitte um Entzifferung einer Inschrift. Er hat sie an einem Ort südlich der Stadt Gaya abgeschrieben. Der Text ist eine Widmung an "Bood-dha, dem Autor des Glücks", der "allgegenwärtig und zeitlos in Kontemplation anzutreffen ist" und der an dieser Stelle, inmitten eines verwilderten Waldes vor langer Zeit seine 'göttliche', übermenschliche Natur gezeigt habe. Die Inschrift stammt von einem Hindu-Priester, der einst den Buddha als eine Ausstrahlung des Hindu-Gottes Vishnu verehrt und sich an der verlassenen Stelle niedergelassen hatte.

Dem Fund von Bodhgaya folgen weitere Entdeckungen. William Jones, Rechtsgelehrter und Übersetzer diverser Hindu- Texte, sammelt Informationen über frühe indische Könige - insbesondere der Maurya-Dynastie, aus der auch der buddhistische Herrscher Ashoka stammte - und ihre Verbindungen zur antiken griechischen Kultur. Jones entziffert viele alte Inschriften; eine jedoch bleibt ihm ein Rätsel: Eine große Säule mit griechischen Stilelementen, über drei Meter im Durchmesser und über 12 Meter hoch. Ein spätmittelalterlicher islamischer Herrscher hatte sie einst aus dem südlichen Zentralasien nach Delhi bringen lassen, um seine Hauptstadt damit zu schmücken. Wie ein britischer Globetrotter bereits 1616 berichtete, hatte man viele Brahmanen und Hindu-Gelehrte wegen der Inschrift befragt, doch niemand war in der Lage gewesen sie zu entziffern. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte sollten noch mehrere solcher Säulen, sowie Felsinschriften und Texte mit dem gleichen Alphabet gefunden werden.

Politische und wissenschaftliche Missionen führen den Arzt und Universalgelehrten Dr. Francis Buchanan (1762-1829) u. a. nach Ceylon, Burma und Nepal. Er identifiziert den Buddha als den Begründer einer Religion, die sich trotz einiger Gemeinsamkeiten von Hinduismus stark unterscheide und die in Südostasien weit verbreitet ist. In seinem Aufsatz "Über die Religion und Literatur der Burmesen" ("On the Religion and Literature of the Burmas", 1797/99) verwendet er als erster Westler den Begriff "Buddhismus". Auf einer Reise in Bihar trifft Buchanan 1811 in Bodhgaya - ein glücklicher Zufall - zum ersten Mal auf einen indischen Buddhisten, der ihm viele Einzelheiten aus der Biographie Buddhas sowie der Verbreitungsgeschichte der erhabenen Lehre erzählt.

Bei manchen Bildungsbürgern aus der Kolonialverwaltung stößt das, was man von dieser Lehre hört und liest, auf echte Sympathie. So schreibt etwa ein gewisser Captain Mahony vor über zweihundert Jahren, nach einem Aufenthalt auf Ceylon:
"Die Religion des Bhoodha, sofern ich genug Einsicht darüber gewinnen konnte, scheint auf einer sanften und einfachen Moralität zu beruhen. Bhoodha hat als seine Prinzipien gewählt: Weisheit, Gerechtigkeit und Wohlwollen. Aus diesen Prinzipien leitet er zehn Regeln ab, die von seinen Anhängern als die wahrhaftigen und einzigen Verhaltensregeln eingehalten werden. Er stellt sie unter die drei Überschriften Gedanken, Wort und Tat..."

1818 und 1819 werden drei junge Männer auf den indischen Subkontinent entsandt, die das westliche Wissen um den Buddhismus weit voranbringen werden: Die leider recht früh verstorbenen Samuel Turnour (1799-1843) und James Prinsep (1799-1840), sowie Brian H. Hodgson (1800-1894).

Turnour lernt auf der seit 1815 vollständig zum britischen Kolonialempire gehörenden Insel Ceylon (Sri Lanka) unter anderem Pali und übersetzt zahlreiche Texte, die für die Kulturgeschichte des Landes von Bedeutung sind.

Der geniale James Prinsep entziffert und übersetzt u. a. 1837 als erster die Schrift, die auf der berühmten Säule von Delhi (siehe oben) eingemeißelt ist. Eine wissenschaftliche Sensation: Es stellt sich heraus, dass die Säule gut 2000 Jahre alt ist und vom Dharma- König Ashoka stammt. Verschiedene Säulen und Felsinschriften, die nach einem gewissen geographischen Muster über ganz Indien verteilt zu sein scheinen, stellen sich als Edikte des buddhistischen Großherrschers des 3. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung heraus. Mit der Entschlüsselung der "Ashoka Brahimi"-Schrift ergibt sich ein breiter Zugang zum historischen Buddha, den Stätten seines Wirkens sowie der Geschichte des Buddhismus in Indien.

Der Tierkundler Hodgson schließlich verbringt viele Jahre als Gesandter Großbritanniens in Nepal und macht im Himalaja mit der Mahayana/Vajrayana-Ausprägung des Buddhismus Bekanntschaft. Er sammelt eine Vielzahl an Schriften, die er zumeist nach Paris schickt: Der am dortigen Collège de France ansässige Professor Eugène Burnoeuf kann mit den Texten auf Sanskrit und Tibetisch zunächst mehr anfangen als die englischen Orientalisten. Durch Hodgsons Vermittlung und mit Prinseps Unterstützung wird der ungarische Sprachenforscher Alexander Csoma von Köros (Sándor Csoma Körösi, 1784-1842) für die Asiatic Society tätig: In jahrelanger Kleinarbeit erstellt er in einem Kloster in Ladakh ein Wörterbuch Tibetisch - Englisch, welches späteren Tibetologen wertvolle Dienste leisten sollte.

Doch ein Problem bleibt zunächst: Wie soll man nach über zweitausend Jahren Legende und Wirklichkeit auseinander halten, wenn es um den Buddha und die Wirkung seiner Lehre geht? Hier kommen im Laufe der Zeit Chroniken aus buddhistischen Nachbarländern zu Hilfe. Übersetzungen von Schriften - wie des tibetischen Werks von Lama Taranatha "Die Geschichte des Buddhismus in Indien" - sollten in hohem Maße bestätigen, was britische und andere europäische Wissenschaftler zusammengetragen haben. Auf der Suche nach buddhistischen Stätten bewährt sich die Archäologie. Nacheinander werden der große Stupa von Sanchi, Überreste und Grundmauern von Rajgir, Sarnath, der Nalanda-Universität sowie anderer historischer Stellen gefunden und analysiert. Forscher, wie etwa Markham Kittoe (1808-1853), Sir Alexander Cunningham (1814-1893), Gründer des heute noch sehr aktiven "Archaeological Survey of India", oder Dr. Lawrence A. Waddell (1854-1938) tun sich hierbei hervor. Ihre besten Helfer sind zwei Chinesen, die längst nicht mehr leben. Fa Hsian und Huan Tsang hatten im 5. bzw. 7. Jahrhundert längere Pilgerreisen in Zentralasien, Indien und Ceylon unternommen und ihre Erlebnisse für die Nachwelt aufgeschrieben. Ihre genauen Ortsbeschreibungen tragen maßgeblich dazu bei, wichtige Stätten zu finden. Auch weitere Relikte aus der Zeit Ashokas werden angetroffen. Auf einen Fund ist man dabei besonders stolz: Eine Ashoka-Säule im Norden Indiens, deren "Kronschmuck", ein mit Löwen verziertes Kapitell, auch nach zwei Jahrtausenden praktisch unbeschädigt ist. Heute dürfte kaum eine antike Kultur archäologisch so gut erschlossen sein wie die des indischen Buddhismus.

Die Mahabodhi-Gesellschaft und der Streit um Bodhgaya
1879 erscheint die poetisch gehaltene Buddha-Biographie "Das Licht Asiens" (The Light of Asia) aus der Feder des Publizisten Edwin Arnold (1832-1904). Ein erfolgreiches Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt wird und viele Westler mit dem Buddhismus bekannt macht. In scharfem Kontrast zum Glanz des Buddha steht indes der Zustand der Pilgerstätten, die Arnold Mitte der 1880er Jahre in Indien besucht. Bodh Gaya berührt ihn besonders. Sein Zeitungsartikel im Daily Telegraph über den Ort der Erleuchtung Buddhas, der inspirierend, aber völlig verwahrlost sei, erregt Aufsehen:

"Schmerzhaft ist es, besonders für jemanden, der die immense Bedeutung dieser Stelle in der Geschichte Asiens und der Menschheit versteht, im Umkreis des heiligen Bodhi-Baums umherzuwandern und hunderte zertrümmerter Skulpturen zu sehen, im Dschungel verstreut oder zu Steinhaufen aufgetürmt, ... zahllose wunderschöne zerbrochene Steine, Buddhas und Bodhisattvas, von einst bewundernswerter Herstellung, die beiseite geworfen worden waren."

Bodhgaya ist zu diesem Zeitpunkt im Besitz eines Hindu-Priesters. Arnold schlägt vor, diese wichtigste Stelle des Buddhismus - unter Berücksichtigung der Interessen der ortsansässigen Hindus - an ein Komitee zu übertragen, das aus Buddhisten verschiedener Nationen bestehen soll. Sein Vorschlag findet im benachbarten Ausland - insbesondere bei der buddhistischen Bevölkerung Ceylons - viel Resonanz.

Anfang 1891 bricht ein junger Buddhist von Ceylon aus nach Indien auf. David Hevavitarne (1864-1933) legt am Bodhi-Baum ein Gelübde ab, dass er von nun an sein Leben der Wiederbelebung der traditionellen Pilgerstellen in Indien, vor allem aber Bodhgaya, widmen werde. Er nimmt den Ordensnamen Anagarika Dharmapala an und gründet wenige Monate später er die "Mahabodi- Gesellschaft". Sitz der Vereinigung ist zunächst die Sri Lankische Hauptstadt Colombo, bald zieht sie nach Kalkutta um. Eines ihrer vorrangigen Ziele: Wiederherstellung der klassischen buddhistischen Pilgerstellen in einen würdigen Zustand. Dharmapala organisiert Kongresse, auf denen Vertreter anderer buddhistischer Länder, insbesondere aus Japan, Spenden geben für den Kauf von Grundstücken, auf denen sich historische Stätten des Buddhismus befinden. Plätze wie Sarnath (die Stelle der ersten Belehrung des Buddha) und Kushinagar (Ort seines Ablebens) können so restauriert werden.

Der Fall Bodhgaya ist schwieriger. Zwar lässt die britische Regierung, auf Initiative von Cunningham, Renovierungsarbeiten durchführen. Doch der dort lebende Hindu-Mahant will die Stelle nicht hergeben, nur ein kleines Grundstück am Rande des Geländes verkauft er an die Mahabodhi-Gesellschaft. Wiederholt kommt es zu Zusammenstößen zwischen Hindus und Buddhisten. Sogar führende Köpfe der indischen Unabhängigkeitsbewegung ergreifen Partei für die Buddhisten. Doch erst 1949, nach der Unabhängigkeit Indiens, kommt es zu einem Kompromiss: Seitdem wird Bodhgaya von einem Komitee verwaltet, das aus je vier indischen Hindus und Buddhisten besteht und in dem ein Hindu den Vorsitz hat.

Die indische Unabhängigkeitsbewegung und die "Dalits"
Zurück zur Politik. Eine Nebenwirkung der britischen Herrschaft ist, dass - nach mehreren Jahrhunderten der Vormacht muslimischer Staaten - die hinduistische Bewegung in Indien wieder stärker hervortritt. 1857 bricht in weiten Teilen Indiens ein Aufstand gegen die britische Kolonialmacht aus. Es dauert Monate, bis die Briten die Lage wieder unter Kontrolle haben. Als Reaktion darauf wird die Ostindienkompanie aufgelöst und ganz Indien zum "Vize-Königreich" mit Königin Viktoria als Staatsoberhaupt erklärt. Um das Justizwesen zu stärken, werden junge Inder zum Jurastudium nach England geschickt. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte treten mehrere hinduistische Erneuerungsbewegungen in den Vordergrund, die auch den politischen Widerstand gegen die Kolonialherren anfachen. Nicht ohne Schwierigkeiten finden Hindus und Muslime nach einigem Hin und Her im Unabhängigkeitskampf gegen die Briten zueinander.

Galionsfigur der indischen Nationalbewegung wird Mohandas K. Gandhi (1876-1948). Er führt mutig und mit großer persönlicher Integrität zahlreiche, betont gewaltlose Protestaktionen mit starker Symbolwirkung an. Seine an allgemeingültigen moralischen Prinzipien orientierte Methode nennt er Satyagraha, was soviel bedeutet wie: "Hingabe an die Wahrheit". Noch heute wird der "Mahatma" (= große Seele) Genannte in Indien und Paki- stan als Volksheld verehrt; vielen von uns dürfte er u. a. aus dem mit zahlreichen Oskars gekrönten Film "Gandhi" (1982) bekannt sein.

Im Freiheitskampf machen in der Zeit zwischen den Weltkriegen verschiedene Bürgerrechtsbewegungen von sich reden. Eine davon ist die der Outcasts, den am meisten Benachteiligten des hinduistischen Kastenwesens. Denn obwohl einige der Parias, der "Unberührbaren", von Förderprogrammen der Briten profitieren und in der indischen Verwaltung oder der Armee beachtliche Karriere machen, werden sie von ihren eigenen Landsleuten weiter gedemütigt. Anführer der Outcasts wird Bhimrao Ramji Ambedkar. Geboren ist er am 14. April 1891 in Mhow im heutigen Bundesstaat Madya Pradesh, als eines von vierzehn Kindern einer armen Hindufamilie aus einer Unberührbaren-Kaste. Ein Lehrer hat dem jungen und fleißigen Bhimrao einst zu einem Stipendium verholfen, so dass dieser eine Universität in Bombay besuchen kann. Später studiert Ambedkar auch noch in New York, London und Bonn Ökonomie, Jura sowie Philosophie. 1923 kehrt er als Rechtsanwalt mit zwei Doktortiteln nach Indien zurück. Der Maharadscha von Baroda macht ihn zum Finanzminister seines Fürstentums; zeitweise arbeitet Ambedkar als Professor für Volkswirtschaft. Doch den Aufsteiger, der wegen seiner Herkunft immer wieder angefeindet wird, schmerzt die fortdauernde Diskriminierung der Outcasts: Er gründet ein Bildungswerk für seine Leidensgenossen und organisiert Kampagnen. 1927 führt er beispielsweise einen Protestmarsch zum Chowdar Wasserreservoir an, wo tausende der Parias demonstrativ Wasser trinken. Brahmanen führen daraufhin peinliche, aufwendige Reinigungsrituale aus. Das Anliegen der Outcasts rückt ins nationale Bewusstsein.

Auch Mahatma Gandhi beklagt den unwürdigen Umgang mit den Outcasts, die er "Harijan" (Kinder des Gottes Vishnu) nennt. Die Hierarchie innerhalb des Kastensystems lehnt er ab, die Kasten als solche möchte er aber nicht abschaffen, da sie für ihn ein fester Bestandteil der indischen Kultur sind. Die Outcasts mögen den Begriff Harijan nicht. Sie nennen sich lieber "Dalits" (vom Sanskritwort dal = "Niedergedrückte") - ein Name, der ihre kämpferische Einstellung gegen die gesellschaftliche Benachteiligung zum Ausdruck bringen soll. 1932 kommt es in der Auseinandersetzung um ein Wahlgesetz zu einem Showdown: Gandhi möchte den Dalits einen achtbaren Platz innerhalb der Hindu-Gesellschaft einräumen. Er lehnt den britischen Vorschlag, der den Outcasts - ähnlich wie den Muslimen oder den Sikhs - feste Minderheiten-Wahllisten zugedacht hatte, ab. Der Mahatma beginnt eine spektakuläre Fastenaktion, kündigt öffentlich an, er werde sich aus Protest zu Tode hungern, wenn es bei dieser Regelung bliebe. Plötzlich werden den Dalits landesweit Tempel geöffnet und der Zugang zu Brunnen gewährt. Ambedkar sucht Gandhi auf. Beide schließen in der Angelegenheit einen Kompromiss.

Ambedkar und der Buddhismus
Trotz Förderprogrammen und einigen Verbesserungen: Die Emanzipation der Dalits gelingt nicht. 1935 kündigt Ambedkar an, dass er zwar als Hindu geboren wurde, er aber nicht als Hindu sterben werde. Die nächsten Jahre in der Politik werden aufreibend für ihn. Nebenher schreibt das Universalgenie Bücher zu den Themen Wirtschaft, Rechtswissenschaften, die indische Unabhängigkeitsbewegung und der Kampf der Dalits für gleiche Rechte. Außerdem studiert er verschiedene Weltreligionen. Während seiner Studienjahre in den USA und Europa, wo man ihm - anders als in seiner Heimat - nicht mit Vorurteilen begegnet war, hatte er Bekanntschaft mit westlichen Werten gemacht. Die Ideale der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, welche die Entwicklung moderner Demokratien beflügelten, hatten auch auf Ambedkar einen tiefen Eindruck hinterlassen. Eine Religion, der er sich anschließen würde, dürfe niemanden diskriminieren und müsse die Entwicklung des menschlichen Potenzials in den Vordergrund stellen. Auf der Suche nach einem weltanschaulichen Vorbild wird er in der Kulturgeschichte seines eigenen Landes fündig:

"Es gab [im alten Indien] nur einen, der seine Stimme gegen Trennung der Menschen und Unberührbarkeit erhoben hat, und das war der Buddha."

Am 15.8.1947 erlangt Gesamt-Indien seine Unabhängigkeit. Aufgrund der ständigen Spannungen und blutigen Zusammenstöße zwischen Hindus und Moslems wird die frühere britische Kolonie geteilt: In der "Indischen Union" wohnen mehrheitlich Hindus, in den Gebieten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung entsteht Pakistan. (Der Ostteil Pakistans wiederum wird sich im Jahre 1971 unter dem Namen Bangladesh selbständig machen.) Auf Vorschlag von Gandhi wird Ambedkar der erste Justizminister des modernen Indiens. Außerdem ernennt man ihn zum Vorsitzenden der Kommission, die eine demokratische Verfassung des Landes ausarbeitet. In wichtigen Punkten drückt er dem Regelwerk seinen Stempel auf: Die "Unberührbarkeit" wird abgeschafft, Diskriminierung verboten, für besonders benachteiligte Klassen der Gesellschaft (wie den Dalits) werden staatliche Förderprogramme festgeschrieben. Dass Ambedkar bereits zu dieser Zeit große Sympathien für den Buddhismus hegt, zeigt sich an der Auswahl der neuen Staatsinsignien: Das indische Staatswappen entspricht dem "Löwenkapitell" des Kaisers Ashoka (siehe oben) und in der Mitte der Nationalflagge prangt das buddhistische Rad der Lehre (Dharmachakra).

Doch das politische Gezerre und das hohe Arbeitspensum zehren an Ambedkars Gesundheit, er erkrankt an Diabetes. 1951 tritt er aus Protest gegen die schleppende Reform althergebrachter Hindu-Gesetze zurück. In den letzten Jahren seines Lebens widmet er sich der Wiederbelebung des Buddhismus in Indien. Er ist Ehrengast auf buddhistischen Konferenzen in Sri Lanka und Burma, schreibt ein viel beachtetes Buch: "Der Buddha und sein Dharma" und bereitet den Übertritt einer ganzen Volksbewegung zum Buddhismus vor. Ort und Datum der Zeremonie, mit der er - zusammen mit mehreren hunderttausend Dalits - am 14. Oktober 1956 in Nagpur nun auch förmlich Zuflucht nimmt, verweisen symbolträchtig auf die buddhistische Geschichte Indiens: Exakt 2200 Jahre zuvor soll König Ashoka hier Buddhist geworden sein, zudem feiert Indien in diesem Jahr das offiziell 2500-jährige Jubiläum der Geburt des Buddha. Im Anschluss an die Zeremonie besucht Ambedkar mehrere buddhistische Pilgerstellen in Indien. Wenige Tage nach seiner Rückkehr, am 6. Dezember, stirbt er plötzlich in seinem Haus in Neu Delhi.

Die neo-buddhistische Bewegung nach Ambedkar
Ambedkar hinterlässt ein eindrucksvolles Lebenswerk: Er hatte ein Beispiel gegeben, wie man durch eigene Verdienste den Aufstieg aus widrigen Lebensumständen schaffen kann, er hatte sich konsequent für eine bessere Gesellschaft eingesetzt, war am Startschuss der größten Demokratie der Welt beteiligt und hatte für den Neubeginn des Buddhismus in seinem Ursprungsland, Indien, gesorgt. Doch Millionen von Dalits und indische Neu-Buddhisten verlieren mit dem Tod Ambedkars ihre große Leitfigur. Auch die spirituelle Orientierung in der neuen Weltanschauung zu finden ist ein Problem. Nach Kolonialzeit und Zweitem Weltkrieg sind auch in anderen Ländern Asiens die buddhistischen Verbände und Gemeinschaften dabei sich mühsam neu zu organisieren. Es gibt zu wenig qualifizierte buddhistische Lehrer, welche die Millionen Neuinteressierten in Sachen Buddhismus anleiten könnten. Das Resultat: Die Bewegung schwächt sich ab.

Doch vergessen ist Ambedkar keineswegs. In vielen indischen Städten erinnern heute Denkmäler an den Bürgerrechtler, Juristen, Nationalhelden und Begründer der neo-buddhistischen Bewegung. Regionale Dalit-Organisationen haben mittlerweile wieder Zulauf. Regelmäßig kommt es zu politischen Aktionen und öffentlichen Massenübertritten zum Buddhismus (teilweise auch zum Christentum). Die von Ambedkar gegründete "Gesellschaft für Volkserziehung" hat dazu beigetragen, das Bildungsniveau der früheren Outcasts beträchtlich zu heben. Die indischen Neo-Buddhisten stammen zwar größtenteils aus der gesellschaftlichen Unterschicht; ihr Bildungsgrad aber liegt inzwischen deutlich über dem Landesdurchschnitt: Sie haben zu 72,7 % eine abgeschlossene Schulbildung, im Vergleich zu 52,2 % in ganz Indien. Trotzdem werden sie von Hindu-Hardlinern weiterhin als abgefallene Outcasts diskriminiert. Mit "Anti-Konvertierungsgesetzen" versuchen einige Bundesstaaten gar Massenübertritte von Dalits zum Buddhismus zu behindern.

Fast 8 Millionen Inder bezeichneten sich bei der Volkszählung von 2001 als Buddhisten. Experten schätzen ihre Anzahl aber auf mindestens doppelt so hoch. Denn es gibt für Angehörige niedriger hinduistischer Kasten staatliche Förderprogramme sowie Quoten zum Beispiel für öffentliche Ämter, Studienplätze. Wer sich offiziell als Konvertit outet, verliert diese Zugeständnisse. In Indien gibt es mindestens 160 Millionen Menschen, die als Dalits gelten.

Auf der Suche nach Leitbildern und Lehrern haben sich einige indische Neo-Buddhisten Theravada-Lehrern zugewandt, doch viele suchen noch nach ihrer persönlichen spirituellen Verbindung. Der Dalai Lama mitsamt seinem Umfeld gilt vielen als zu sehr tibetisch-politisch. Sehr großes Ansehen dagegen genießt Karmapa Thaye Dorje. Häufig wird er zu Konferenzen und Gedenkveranstaltungen der indischen Buddhisten eingeladen, und das junge Oberhaupt der Karma Kagyü-Linie kommt gerne. Bereits heute ist Gyalwa Karmapa ein sehr wichtiger Lehrer für indische Neo-Buddhisten.

Doch der Vater der Bewegung bleibt Bhimrao R. Ambedkar, der als moderner Bodhisattva verehrt wird. Und die macht in letzter Zeit wieder mehr von sich reden. "Dr. Ambedkar ist mächtiger als noch zu Lebzeiten", sagt Saddhananda Fulzele, in jungen Jahren einer seiner Weggefährten und später Vorsitzender des Ambedkar College in Nagpur. "Fünfzig Jahre ist keine lange Zeit in der Geschichte einer religiösen Bewegung. Allmählich werden wir erwachsen." Sollte jemand von euch einmal in Indien Neo-Buddhisten begegnen, könnt ihr sie mit ihrer eigenen Formel begrüßen: "Jai Bhim" = "Möge Bhimrao (Ambedkar) siegreich sein."

(Anlässlich dieses Artikels möchte ich einem meiner akademischen Lehrer, Hermann Kulke, Professor [Em.] für Asiatische Geschichte in Kiel und Indienspezialist, sehr für das von ihm vermittelte Wissen danken. Möge er noch lange, glücklich und gesund leben!)


Ergänzungen zum Thema:
 
 

 

Schrifttum zum Thema (Auswahl):

a) Literatur
Charles Allen: The Buddha and the Sahibs. The men who discovered India's lost religion. London 2003.
[Sehr informatives und teilweise spannend geschriebenes Buch über die Wiederentdeckung des Buddhismus durch britische Kolonialwissenschaftler.]

H. Bechert / H. Gombrich (Hrsg.): Der Buddhismus, Geschichte und Gegenwart. Neuausgabe München 2000.

D. Chattopadhyaya (ed.): Taranatha's History of Buddhism in India.
Translated from Tibetan by Lama Chimpa / A. Chattopadyaya. Delhi 1997 (reprint).

H. Kulke / D. Rothermund: Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. München, 2006 (erweiterte Sonderausgabe, 1. Auflage 1982).
[DAS Standardwerk zur Indischen Geschichte!]

Étienne Lamotte: History of Indian Buddhism. Leuven/Paris (Institut Orientaliste de l'Université Catholique de Louvain) 1988.

A. K. Warder: Indian Buddhism. Delhi 1991 (reprint).

b) Webseiten (jew. in englischer Sprache):

http://www.ambedkar.org
Wichtigste Website der indischen Neo-Buddhisten, mit viel Material zu Leben und Werk von Dr. Ambedkar

http://www.berzinarchives.com/web/x/nav/n.html_661956143.html
Einige Aufsätze zur Geschichte des Buddhismus im Online-Archiv von Alexander Berzin

http://www.buddhanet.net/e-learning/history/index.htm
Umfassende Informationen zur buddhistischen Geschichte auf Buddhanet

http://www.buddhistchannel.tv
Buddhistische Nachrichtenplattform

http://www.cs.colostate.edu/~malaiya/ashoka.html
Über die Inschriften Ashokas (mit Textauszügen)

http://www.dalit.de/details/dsid_ambedkar_ghandiundambedkar.pdf
Interessanter Aufsatz von Maren Bellwinkel-Schempp: Die Bedeutung Ambedkars für die Emanzipation der Unberührbaren. Gandhi und Ambedkar. [dt.]


Michael den Hoet, Jahrgang 1964, seit über 20 Jahren Buddhist. Häufiger Autor und langjähriger Nachrichtenredakteur für die "Buddhismus Heute", wohnt in Hamburg. Von der Ausbildung Historiker, lehrt in unseren Zentren im In- und Ausland vorwiegend zu Themen mit geschichtlichem Hintergrund.

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