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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 37, ( 2004)

Die Auswirkungen der Karmapa-Kontroverse

Von Tomek Lehnert

Ende Dezember wurden in der Online-Zeitschrift ASIA TIMES (www.atimes.com) ein dreiteiliger Artikel über tibetischen Buddhismus veröffentlicht. Autor war der britische Journalist Julian Gearing - in Buddhismus Heute Nr. 32 vom Februar 2001 brachten wir unter dem Titel „Kampf um Tibets Seele" einmal die Übersetzung eines seiner Artikel. Er berichtet jetzt über den chinesisch-tibetischen Dialog, über die Karmapa-Kontroverse und darüber, wie diese die westlichen Kagyü-Buddhisten beeinflusst hat. Zu letzterem Thema verwendete Julian Gearing Informationen von Tomek Lehnert, dem Autor des Buches „Rüpel in Roben". Tomek Lehnert hatte als naher Schüler und Helfer von Lama Ole Nydahl in den Jahren der Karmapa-Kontroverse ein tiefes Wissen aus erster Hand über die Vorgänge gewonnen, und in seinem Buch die Geschichte und die Hintergründe des Konfliktes dargelegt.
Hier der Text des Kurz-Interviews mit Tomek Lehnert, aus dem Julian Gearing in seinem Artikel einige Sätze zitiert:

JULIAN GEARING:
Was sind die negativen und die positiven Auswirkungen der Karmapa-Kontroverse auf die westlichen Anhänger der Karma-Kagyü-Schule?

TOMEK LEHNERT:
Die negativen Auswirkungen:

In Folge der erbitterten inneren Kämpfe zwischen hohen Lamas verloren einige Praktizierende ihr allgemeines Vertrauen in den Buddhismus. Sie konnten manchmal nicht sehen, dass Buddhisten - ganz gleich wie hoch gestellt - nicht das Gleiche wie verwirklichte Buddhas sind. Als der Konflikt ausbrach, fühlten sich manche westliche Praktizierende von ihren tibetischen Lehrern im Stich gelassen oder sogar verraten, was bei einigen Leuten zu Krisen hinsichtlich der Werte im Leben führte. Sie wurden kritisch, einige sogar völlig skeptisch oder zynisch gegenüber dem Buddhismus - sie schütteten sozusagen das Kind mit dem Bad aus. Einige westliche, aber auch östliche Karma-Kagyü-Praktizierende stellten sich völlig taub gegenüber Vernunft, Logik oder gesundem Menschenverstand, wenn es um die Verteidigung ihrer Wahl des Karmapa ging. Es herrschte fanatisches Verhalten vor.

Die Faszination, die Tibet und die tibetischen Lamas ausübten, war zuvor eine starke Quelle der Inspiration für die Praxis des Buddhismus gewesen, und in vielen Fällen verschwand sie jetzt völlig. Viele Praktizierende verfielen in das andere Extrem, alles Tibetische oder Östliche völlig abzulehnen.

Der Konflikt hat den tibetischen Buddhismus auf eine Ebene mit skandalgeschüttelten spirituellen Gruppen und Sekten gestellt. Er verstärkte die vorherrschende allgemeine Sicht, dass es bei Spiritualität, besonders der östlichen Sorte, eigentlich nur um Geld, Macht und Kontrolle über die Anhänger ginge. So könnte der Konflikt bewirken, dass der Schüler, angesichts von grobem Fehlverhalten seiner Lehrer, seine Standards herabsetzt oder niedere Standards als gerechtfertigt ansieht.

Auf der politischen Ebene hat der Konflikt die Tibeter weiter gespalten und den kommunistischen Chinesen in die Hände gespielt. Er könnte auch den Dalai Lama bei seinen immer neu beginnenden und wieder abbrechenden Verhandlungen mit den kommunistischen Chinesen politisch geschwächt haben. Der größte Schaden entstand dadurch, dass die kommunistischen Chinesen es geschafft haben, bei der Anerkennung tibetischer Wiedergeburten auf höchster Ebene mitzuwirken - ein gefährlicher Präzedenzfall.

In einigen wenigen Fällen sah ich in Folge des Konfliktes Freundschaften zerbrechen. Aber das war eher eine Ausnahme als die Regel. Die Leute, die am Ende auf verschiedenen Seiten des Konfliktes standen, waren schon zu Anfang sehr unterschiedlich gewesen.

Die positiven Auswirkungen der Karmapa-Kontroverse:

In Folge der Karmapa-Kontroverse wurde eine große Zahl westlicher Karma-Kagyü-Praktizierender (und hoffentlich Buddhisten im Allgemeinen) selbständig. Sie begannen, ihre tibetischen Lehrer zu untersuchen und wurden allgemein kritischer gegenüber Spiritualität. Westliche Karma-Kagyü-Buddhisten begannen, buddhistische Lehren und Lehrer mit gesundem Menschenverstand, Logik und Vernunft zu überprüfen. Es wird heute allgemein akzeptiert, dass ein Lehrer durch seine oder ihre eigenen Verdienste anerkannt werden sollte, anstatt nur auf Basis eines historischen Titels oder einer spirituellen Anerkennung.

Die Leute entwickelten eine Bewusstheit dafür, welche buddhistischen Methoden im Westen nützlich sind und stellten sich darauf ein. Sie lernten zu unterscheiden. Die Praktizierenden im Westen mussten ihre eigene Kraft finden. Es gab keinen Platz mehr für die kindliche Abhängigkeit von einem Lama oder Lehrer.

Die Leute wurden gezwungen, für hohe Prinzipien einzutreten; sie mussten Courage zeigen und wichtige Entscheidungen treffen, was ihren Charakter stärkte. So fand eine notwendige Neujustierung statt: Westlichen Werten wie Demokratie, persönliche Freiheit, Ausbildung, Zugang zu Informationen - den Ecksteinen einer heutigen westlichen Gesellschaft - wurde die richtige Stellung eingeräumt. Unser westliches Erbe ist nicht in Gefahr, einfach abgelehnt zu werden.

Zugleich wurde der Buddhismus aus dem sozialen und ethnischen tibetischen Hintergrund, mit dem er zuvor vermischt war, herausgelöst. Nun wird Buddhismus für seine universellen Werte geschätzt und das ethnische Tibet und sein soziales Gefüge werden als etwas davon Getrenntes gesehen, das im historischen Kontext zu beurteilen ist.

Die spirituelle Hierarchie, die der tibetische Buddhismus angenommen und perfektioniert hatte, wurde mikroskopisch genau untersucht und es wurden große Schwächen entdeckt. Heute verstehen die meisten Leute, dass es im Westen keinen Platz dafür gibt. Das hierarchische, tibetische System wurde mehr und mehr gezwungen, Werte wie Transparenz und Verantwortlichkeit anzunehmen. Der Lama kann jetzt für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden und kann sich nicht mehr hinter einer Mauer von Dienern und Gehilfen verstecken.

Einige wichtige Themen gehen mir hierzu durch den Kopf, wie:

Die unversöhnlichen Unterschiede zwischen dem autokratischen Tibet und dem demokratischen Westen.

Das Bestehen des Buddhismus auf Logik, Vernunft und klarem Denken - und der blinde Glaube, dass alle Lamas allwissend und kaum noch den Prozessen unter normalen menschlichen Bedingungen unterworfen sind.

Die heilige Verehrung, mit der Tibet von vielen im Westen betrachtet wird - und der feudale, autokratische Hintergrund Tibets.

Alles in allem würde ich sagen, dass eine sehr wichtige Auswirkung der Karmapa-Kontroverse der Fortschritt der Diamantweg-Zentren des Karma-Kagyü-Buddhismus unter der Leitung von Lama Ole Nydahl war. Als die Karma-Kagyü-Schule im Westen von den Zügeln der Hierarchie, Tradition und tibetischen Kultur befreit war, konnte sie in viel größerem und zuvor nicht gesehenem Maße moderne und kritisch denkende Westler anziehen und inspirieren.

Die Vorteile überwiegen im allgemeinen die negativen Auswirkungen und aus heutiger Perspektive - nach zwölf Jahren - kann man sagen, dass das Geschehene nötig und unvermeidbar war, und dass jede andere tibetisch-buddhistische Linie durch den gleichen Prozess reifen werden muss.


Tomek Lehnert
Geb. 1956 in Polen, studierte Tiefbau und Englisch, aktiv in der Solidarnosz-Bewegung in den 80ern. Zuflucht 1983 bei Lama Ole, reiste ab 1988 sehr viel mit Lama Ole und war 15 Jahre lang in Lama Oles Arbeit aktiv.
Autor des Buches „Rüpel in Roben", einer Chronik der Karmapa-Kontroverse.