"Über alle Grenzen" arbeitenVon Patricia SchaffrickWenn wir auf die Entwicklung und die Geschichte des Diamantweg-Buddhismus schauen, dann sehen wir keine nationale Begrenzung. Geboren vor über 2550 Jahren in Indien, 1000 Jahre lang in Tibet gehalten, erobert er jetzt die westliche Welt. Wir sind Zeitzeugen eines sehr spannenden historischen Prozesses: Buddhas Belehrungen kommen jetzt von einem asiatischen, kulturellen Hintergrund in eine moderne, technisierte Welt, um hier unzähligen Menschen zu nutzen. Das geht deshalb so gut, weil Buddha zeitlose Wahrheit lehrt, völlig unabhängig von kulturellen Merkmalen. Belehrungen über die Natur des Geistes sind ihrem Wesen nach überpersönlich und nicht dualistisch. Damals wie heute, ob im Osten oder im Westen, sind die Menschen auf der Suche nach Glück. Tatsächlich sind die Gemeinsamkeiten wichtiger als die Unterschiede, die es natürlich gibt und die man durchaus mit einberechnen sollte. Aber um Internationalität zu leben, lohnt es sich, die Qualitäten und Fähigkeiten der verschiedenen Gruppen bzw. Nationalitäten zu entdecken und Eigenarten, anderes Verständnis oder Kommunikationsschwierigkeiten als Herausforderungen zu sehen. Auf äußerer Ebene ist es offensichtlich, dass wir international sind: es gibt an die 425 Diamantweg- Zentren in 44 Ländern. Überall meditieren tausende von Menschen in ihrer jeweiligen Sprache auf Karmapa, verwenden die bewährten Methoden und unser Lama Ole Nydahl reist jährlich (oft zweimal) rund um die Welt. Der Diamantweg geht buchstäblich über alle Grenzen. Auch unsere Meditationskurse ziehen Praktizierende aus aller Welt an, und es ist keine Seltenheit auf den großen Kursen, zum Beispiel in Kassel oder Spanien, viele verschiedene Nationalitäten zu treffen. Das letzte große Treffen fand gerade jetzt in Hamburg zum Silvesterkurs 2003 statt. Da zeigte sich, dass „Internationalität" nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern wirklich gelebt wird; unter anderem darin, dass die Kurssprache Englisch war. Für viele „Einheimische" war das sicher nicht leicht, aber all die Freunde, die aus der ganzen Welt angereist kamen oder die Belehrungen über das Internet verfolgten, waren bestimmt sehr dankbar dafür. Auch hier gab es die Möglichkeit, sich in Interessengruppen zu treffen, um an gemeinsamen Projekten weiter zu arbeiten. Da gibt es internationale „Buddhismus Heute" Teams, Graphiker und Pressegruppen, Kursvorbereitungen und Projektplanungen (zum Beispiel das Triangle Projekt). Unsere Idee eines internationalen Teams haben wir für den Aufbau unserer Retreatstelle in Griechenland und den Bau der Kalachakrastupa dort ganz bewusst geplant: Die Ungarn sind bekannt für ihre phantasievollen Designer, also gestalten sie das Programm. Die Polen haben viel Erfahrung mit dem Bau, also gießen sie die Fundamente. Die Schweizer stehen für Präzisionsarbeit, also formen sie die Tsatsas. Die Deutschen sind Organisationstalente... Die zunächst bunt zusammen gewürfelte Gruppe wächst seither zu einer echt starken Truppe heran. Das Europazentrum als unsere größte internationale Vision lässt Ideen entstehen. Die bevorstehenden Aufgaben werden nicht mehr von einzelnen Gruppen der Länder bewältigt, sondern von Anfang an in Nationen-übergreifenden Teams geplant und durchgeführt. Bis dahin pflegen wir unsere bestehenden Freundschaften und bauen neue Verbindung auf. Ein wichtiges Instrument unserer weltumspannenden Kontakte ist das Internet. Kagyüs aus aller Welt können dank moderner Technik, zum Beispiel „life streaming", an wichtigen Ereignissen teilhaben. Eine gute Möglichkeit, die Welt und die Buddhisten aus fernen Ländern kennen zu lernen, ist, mit dem Lama zu reisen. Die vielen Erlebnisse dabei eröffnen unzählige neue Verbindungen und wir erkennen die Relativität unserer eigenen kleinen Welt. Gleichzeitig erschließt sich uns der unglaubliche Reichtum, zum Beispiel neue Meditationsgruppen, interessante Projekte usw., welcher durch Überschuss aller Beteiligten möglich geworden ist. Das Schönste dabei ist, dass man sich überall gleich zuhause fühlt, wo man auf andere Kagyüs trifft. Auch gemeinsame Pilgerreisen vertiefen Freundschaften und erweitern unser Verständnis. Hier ist es besonders spannend, die Länder und Stellen unseres buddhistischen Ursprungs zu erleben. Weitsichtig, wie unsere Lehrer sind, regen sie oft solche Unternehmungen an. Eine sehr bereichernde Reise war zum Beispiel die Fahrt nach Bhutan auf Wunsch von Lopön Tsechu Rinpoche. Das Herzblut oder das Fleisch auf den Knochen unserer Internationalität ist immer die Freundschaft. Damit arbeiten wir auch auf der inneren Ebene. Meistens ist es leicht, sich für andere zu öffnen, denn wir teilen häufig intensive und schöne Erlebnisse. Interessant wird es da, wo wir auf Hindernisse stoßen. Manchmal liegt es nur an der Sprache oder der Körpersprache. In Bulgarien schüttelt man den Kopf, wenn man „ja" meint und nickt verneinend. Dabei gab es schon die größten Missverständnisse. Besonders lustig war das beim ersten Phowa, als Lama Ole ausgiebig die Vergegenwärtigung erklärte und danach fragte, ob es verstanden wurde. Alle schüttelten den Kopf. Lama Ole erklärte ausführlich noch einmal dasselbe und wieder schüttelten alle den Kopf. Als Lama Ole zum dritten Mal ansetzte und jeder im Zelt schon verzweifelt zu schütteln anfing, rettete der Übersetzer die Situation. Es gibt auch große Unterschiede in Arbeitsstil und Tempo. Dabei kracht es schon manchmal in den gemischten Teams, aber wenn wir es schaffen, diese Unstimmigkeiten auszuräumen, entstehen Vertrauen und gegenseitiger Respekt. Richtig nah kamen wir uns in der Praxis letzten Sommer bei einem Arbeitskurs in Berchen Ling, Griechenland. Der ganze Balkan und die halbe Welt trafen sich auf dem „Schwarzen Berg". Beim Arbeiten, Meditieren und Feiern lernten wir uns kennen und schätzen. Jetzt im Winter machen sich ein paar Freunde aus Deutschland und Ungarn auf den Weg, um die Freunde am Schwarzen Meer zu unterstützen. Solche Aktionen machen allen Spaß und verbinden uns, vor allem wenn man auf dem Weg sogar noch auf eine Party bei den Serben oder Österreichern vorbeischauen kann. Wo immer wir mit anderen zu tun haben, kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Ärger entsteht aus festen Vorstellungen, die nicht erfüllt werden. Das erste Lernfeld für den Umgang mit störenden Gefühlen ist oft das heimatliche Zentrum. Grundsätzlich lernen wir jedoch überall. In der internationalen Begegnung liegt einfach eine weitere Herausforderung. Letztendlich geht es um die Arbeit mit dem Geist, um Sichtweise, um Geschmeidigkeit und Freude: eben das, was uns als Buddhisten auszeichnet. So entstehen auf der äußeren Ebene Kurse und Häuser und auf innerer Ebene entwickeln wir uns und erweitern unser Verständnis vom Dharma. Dazu gewinnen wir eine unendliche Vielfalt an Reichtum von Freunden und Erlebnissen, die vorher kaum vorstellbar ist. Während wir außen Tatkraft entwickeln und innerlich störende Gefühle in Buddhaweisheiten umwandeln, entsteht auf geheimer Ebene immer mehr Einsicht in die Wirkungsweise der buddhistischen Kraftfelder. Wir bemerken, dass wir wirklich nicht voneinander getrennt sind. Raum ist Information. Dieses (vielleicht noch theoretische) Wissen über die unbegrenzte Natur des Geistes wirkt sich direkt in unserem Alltag aus. Wir können mehr und mehr dem Raum vertrauen, beispielsweise, dass schon der richtige Helfer vorbeikommt. Außerdem erleben wir die internationale Gemeinschaft der Praktizierenden als Quelle von Unterstützung und Inspiration und verstehen so tiefer die Bedeutung der Zuflucht in die Sangha. Das eigene Tun ist ein Faden im großen Geflecht des Mandalas. Als „alte" Kagyüs schauen wir natürlich immer auf den Lehrer und stellen verwundert und dankbar fest, wie geschickt er uns anleitet, schützt und uns allen so viel Wachstum ermöglicht. Mit ihm als Beispiel vor Augen bekommen wir das nötige Handwerkszeug für den Diamantweg. Damit werden wir fähig, den Reichtum der nationalen Besonderheiten in die große Sicht mit einzubeziehen. Durch unsere Freundschaft jetzt, durch alles womit wir uns besser kennen lernen und verstehen, schaffen wir die Basis, um unseren westlichen Laienbuddhismus in unseren Gesellschaften zu verankern und mit Freude und Überzeugung in der Zukunft zu leben. PATRICIA SCHAFFRICK |
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