Aus: Buddhismus Heute Nr. 32, ( 2001)

Die Zwischenzustände, Teil 4: Der Bardo des Werdens

Von Lopön Tsechu Rinpoche

Zur Zeit des vierten Bardos sind alle diejenigen, die im Leben zuvor praktiziert und Resultate erreicht haben, bereits befreit. Erinnern wir uns: Es gibt die drei Kategorien von Fähigkeiten - höchste, mittlere und niedere. Die mit höchsten und mittleren Fähigkeiten haben schon vor diesem Zeitpunkt Befreiung oder Erleuchtung erlangt. Diejenigen mit niederen Fähigkeiten - Praktizierende, die aber nicht fähig waren, die Natur ihres Geistes zu erkennen als sie darin eingeführt wurden - sind zu dieser Zeit noch im Bardo. Sie werden eine kurze Bardo-Erfahrung haben, aber nicht davon gefangen werden. Aufgrund der Praxis-Gewohnheit, die sie entwickelt haben, werden sie sich an ihre Praxis erinnern, in diesem Moment wissen was zu tun ist und die Möglichkeit zur Befreiung haben.

So wie ein Ball, den man gegen eine Wand wirft, diese kurz berührt aber gleich wieder zu einem zurückkommt, so werden diese Praktizierenden kurz in die Verwirrung des vierten Bardo geworfen, kommen aber durch ihre starke Praxis-Gewohnheit gleich wieder heraus. Sie haben das Karma, die Erfahrung dieses Bardos zu machen, aber nicht darin zu verweilen und nicht das Leiden dieses Bardos durchzugehen.

Dieser "Bardo des Werdens" ist genau die Zeitspanne zwischen der Verwirrung, die einsetzt wenn man die Natur des Geistes bei der Trennung von Körper und Geist nicht erkannt hat, und dem Moment der erneuten Empfängnis. Selbst Leute mit etwas Praxis-Erfahrung haben eine kurze Erfahrung davon bevor sie befreit werden. So ist es erst recht schwierig für Leute die gar nicht praktiziert haben und keine Anweisungen darüber bekommen haben was im Bardo und beim Sterben zu tun ist. Selbst wenn jemand anders für sie das Phowa macht und ihnen hilft ihr Bewußtsein zu überführen, ist das nicht so einfach. Sie werden auf jeden Fall einen Teil dieses Bardos erleben.

Nachdem die Weiße Essenz des Vaters und die Rote Essenz der Mutter im Herz-Zentrum zusammenkommen sind, manifestiert sich das Klare Licht des Geistes. Wenn man es nicht erkennen kann, kommen sehr überwältigende Erfahrungen auf. Man gerät in Panik und fällt oft in Ohnmacht. Zu dieser Zeit trennen sich Körper und Geist. Das zeigt sich in sehr starker Weise und wenn man es erkennt als das was es ist, kann man befreit werden. Wenn nicht, dann ist es erschreckend und manifestiert sich als sehr laute Geräusche und sehr grelles Licht. Man versteht nicht was es ist und außerdem ist es so stark, dass man nicht damit umgehen kann und davor fliehen will. Dies ist die Zeit, wo der Geist den Körper durch eine der Körperöffnungen verlässt, wenn man vorher nicht Phowa gemacht hat. Die weiße und rote Flüssigkeit, die der Essenz des Vaters und der Mutter entsprechen, treten jetzt aus.

Es können zwar zu dieser Zeit auch angenehmere Dinge erlebt werden, zum Beispiel Erfahrungen der höheren Daseinsbereiche. Da man aber so in Panik ist, kann man sie nicht richtig sehen und alles erscheint einem erschreckend. Man kann nichts richtig anschauen, sondern versucht nur zu fliehen. So beginnt die neue Existenz in der bedingten Welt. Aufgrund der Gewohnheitstendenzen im Geist bilden sich jetzt wieder die Strukturen, die die Existenz in Samsara formen. Durch die Kraft des eigenen Karmas beginnt sich ein "Geist-Körper" zu bilden.

Bei den Erklärungen zum Bardo des Sterbens ging es darum, wie sich beim Sterben die verschiedenen inneren Winde und Elemente auflösen. Wenn die beiden Essenzen zusammenkommen, verschwinden all die geistigen Zustände, die mit Störgefühlen zusammenhängen. Der ganze Prozess läuft jetzt in umgekehrter Reihenfolge, alles beginnt sich wieder neu zu formen. Da wir die Natur unseres Geistes nicht erkennen konnten, entsteht zuerst der "Wind der Unwissenheit". Dann folgen der Lebenswind, der Wind des Feuers, des Wassers und der Erde. So wie sich die verschiedenen Elemente beim Tod unseres physischen Körpers auflösten, bildet sich jetzt der Geist-Körper wieder aufgrund dieser Winde.

Mit seinem Entstehen kommen auch die sieben geistigen Zustände wieder auf, die mit Dummheit zu tun haben - alles geht wieder von vorne los, beginnend mit der Unwissenheit. Daraus entstehen dann die 40 Geisteszustände der Begierde, dann die 33 die mit Zorn zu tun haben. In dieser Weise entsteht man wieder in Form eines geistigen Körpers und wenn die Elemente zusammenkommen, ist wieder das gleiche gewohnheitsmäßige Bewusstsein wie zuvor da. Man hat die Erfahrung eines realen Körpers, obwohl er nicht physisch sondern nur geistig ist. Von anderen Wesen in einem physischen Körper kann er auch nicht wahrgenommen werden.
Dieser Bardo-Körper kann nur Gerüche "essen". Er kann keine Nahrung zu sich nehmen, wenn sie ihm nicht extra "gewidmet" wurde. Deswegen gibt es verschiedene Möglichkeiten und auch Rituale, Bardo-Wesen herbeizurufen und ihnen gesegnetes Essen zu geben. Das können sie dann annehmen und sie sind darüber froh und befriedigt. Ansonsten können sie zwar Essen wahrnehmen, es aber nicht zu sich nehmen.

In diesem Geist-Körper hat der Geist natürlicherweise etwas Klarsicht, man kann mehr wahrnehmen als in seinem gewöhnlichen Körper. Da es ein rein mentaler Körper ist, kommt man auch augenblicklich an jeden Ort, an den man gerade denkt. Man kann überall ins ganze Universum gehen, mit zwei Ausnahmen: Die Gebärmutter der zukünftigen Mutter und den Platz wo Buddha Erleuchtung erlangte, Bodhgaya in Indien.

Die einzigen Wesen die einen in diesem Zustand wahrnehmen können, sind solche in derselben Situation. Andere Bardo-Wesen haben in diesem Moment das gleiche Karma, von Wesen aus Fleisch und Blut kann man jedoch nicht gesehen werden. Man selbst kann sie jedoch durchaus sehen, was die Ursache für viel Leid ist. Man sieht auch seinen eigenen Leichnam, ohne aber zu verstehen, dass man gestorben ist. Man versteht einfach nicht, dass es sich um den eigenen Leichnam handelt und man nicht mehr am Leben ist. Stattdessen versucht man die ganze Zeit mit Bekannten zu reden, aber sie können einen ja nicht sehen. Man versucht, mit dem Partner, den Kindern oder der Familie zu reden und sie reagieren nicht, was natürlich ein Schock ist und einen verwirrt. Je öfter sie nicht reagieren, desto mehr regt man sich auf. An dem Ort wo man meistens war, benutzen sie manchmal Dinge die einem gehört haben. Man ist empört darüber, aber niemand nimmt Notiz davon. Manchmal wird man ernsthaft zornig und immer verzweifelter, da alle Versuche einer Kontaktaufnahme fehlschlagen.

Da der eigene Körper nicht die Weiße Vater- und die Rote Mutter-Essenz hat - es ist ja kein physischer Körper - kann man Mond und Sonne nicht wahrnehmen. Sie erscheinen einfach nicht in der Welt die man erlebt, und man streift in völliger Verwirrung herum. Man wird auch von Hunger und Durst gequält, aber wenn einem keine Nahrung gewidmet wird, bleibt man hungrig und durstig.

Wie eine Feder im Wind wird man hin- und hergetrieben wohin auch immer einen der Wind bläst. Es ist völlig chaotisch und sehr schmerzhaft, weil man gar keine Kontrolle hat, sondern alles dem eigenen Karma folgt. Der Grund für diese Unstabilität ist, dass man nichts Physisches hat, was einen halten könnte - es geschieht alles nur im Geist.

Da man keine körperliche Stütze und deswegen auch keinen Kontakt zur physischen Welt hat, sucht man einen Platz wo man bleiben kann. Man geht zu Häusern oder Höhlen, zu allem was aussieht als könnte man dort verweilen. So spukt man umher und niemand sieht einen, außer andere Wesen in dem gleichen verwirrten Zustand. Man trifft alle möglichen Wesen in Geist-Körpern, manche aus höheren Bereichen, andere dämonisch, und alle ohne einen physischen Körper. So wird man immer verzweifelter, deprimierter und entsetzter über die ganze Situation. Es ist wie ein einziger großer Alptraum. Man kann die Erfahrungen auch nicht festhalten; alles geschieht so schnell, dass man sich nicht mal richtig klar darüber ist, was eigentlich geschieht.

Man hat auch starke Erfahrungen dadurch, dass sich die Elemente wieder manifestieren. Wenn das Erd-Element wieder erscheint, fühlt man sich als wenn man von Bergen oder großen Häusern er-drückt wird, als wenn etwas Schweres auf einem liegt. Die Rückkehr des Wasser-Elementes zeigt sich durch den Eindruck, dass man von einer Flut und großen Wellen davongetragen wird. Wenn das Feuer-Element sich wieder manifestiert, hat man den Eindruck mitten in einem großen Feuer verbrannt zu werden, als wäre man in einem Haus, das plötzlich in Brand steht. Das Wind-Element zeigt sich, indem man mitten in einem Sturm zu sein scheint. All die Elemente kommen so in sehr harter Weise zurück, eine überwältigende Erfahrung, die einen sehr erschreckt.

Die Störgefühle Unwissenheit, Begierde und Zorn werden in der Weise erfahren, dass man sich fühlt, als würde man ohne Kontrolle in einen Abgrund von Weiß, Rot und Schwarz stürzen. Man erlebt Eis-Stürme, schlimmer als alles hier in der normalen Welt, mit Hagel aus Blut und Eiter. Es ist sehr schmerzhaft und hinzu kommt, dass man Visionen von einer Art Dämonen hat, die einen jagen. Es sind sehr furchterregende Erlebnisse. Besonders Leute, die in ihrem Leben viel getötet haben - Fischer, Schlächter und Jäger - haben starke Paranoia-Visionen, dass andere Wesen hinter ihnen her wären und sie töten wollen.

Im Durchschnitt dauert der Zwischenzustand sieben Wochen, aber diese Zeitspanne ist nicht fest. Man kann auch ganz schnell Befreiung erlangen und dann ist das Leiden nur sehr kurz. Auf der anderen Seite kann es aber auch mehr als sieben Wochen dauern; manche Wesen verbringen Monate oder Jahre im Bardo.

Wenn jemand gestorben ist, macht man alle sieben Tage Rituale für ihn, bringt Opferungen dar und versucht ihm zu helfen. Der Grund dafür ist, dass es aufgrund von Karma so geschieht, dass man alle sieben Tage das ganze Geschehen erneut erlebt: Man erlebt wieder, dass man stirbt und hat erneut die ganzen Leiden.

Wenn man halb durch den Bardo ist, zeigen sich die karmischen Eindrücke im Geist und eine neue karmische Geburt kommt zustande. Es wird so erlebt, dass der "Herr des Todes" als eine Art Richter vor einem erscheint. Er wiegt die schwarzen und die weißen Taten gegeneinander ab. Das ist der Moment der Wahrheit in Hinsicht auf das eigene Verhalten im Leben. Als Resultat davon formt das Karma die neuen Erfahrungen. Die Kombination all der Gewohnheits-Muster und Störgefühle läßt einen erfahren, dass man sich zu verschiedenen hier erscheinenden Lichtern hingezogen fühlt.

Wenn man das Karma hat, als Gott geboren zu werden, sieht man ein blasses weißes Licht. Mit dem Karma für eine Existenz als Halbgott ist es ein rotes Licht, bei Menschen ein blaues, bei Tieren ein grünes, und bei Hungergeistern ein gelbes Licht. Falls man das Karma für das Leiden in den Paranoia-Welten hat, ist man zu dieser Zeit wahrscheinlich sowieso schon da. Man erlebt dann nicht so viel vom Bardo, sondern fällt nahezu sofort in die Höllen-Bereiche.
Aufgrund des Karmas erträgt man es nur, in blasses Licht zu schauen. Die Weisheits-Lichter sind zwar auch die ganze Zeit da, aber man hat nicht das Karma, sie wahrzunehmen - es ist einem zuviel und man schaut nicht hin. Man erträgt nur die anderen Lichter und geht zu einem davon entsprechend dem eigenen Karma.

Diese Art von "Jüngstem Gericht" wird tatsächlich so erlebt. Es gibt Erscheinungen von einer Art schwarzem Dämon und einem weißen Gott. Alles was man getan hat, wird dann präsentiert und das Überwiegende bestimmt wie es mit einem weitergeht. Wenn man mehr positives als negatives Karma angesammelt hat, geht man weiter auf dem Pfad zur Befreiung. Man kann dann in höheren Bereichen und als Mensch wiedergeboren werden, dort praktizieren und schließlich den Weg zur Erleuchtung gehen.

Wenn aber die negativen Taten überwiegen, ist das Resultat, dass man in die niederen Bereiche fällt. Das bedeutet, dass die Chance zum Ansammeln guten Karmas sehr gering ist, denn in einer niederen Existenzform hat man praktisch keine Gelegenheit, irgendetwas Positives zu tun und die Samen für Befreiung zu legen. Das macht alles noch schlimmer.

Es gibt eine Geschichte, die zeigt, wie wichtig Handlungen sind, dass sogar kleinste Taten die Resultate bringen können, die man braucht, um sich auf dem Weg zu entwickeln:
Zur Zeit Buddhas gab es einen Mann, der ein Mönch werden wollte. Er wollte der Welt entsagen und den Dharma lernen. So ging er zu Buddhas Schüler Ananda und bat ihn um die Mönchs-Ordination. Ananda hatte etwas Klarsicht und sagte ihm, dass er nicht das Karma habe, um als Mönche ordiniert zu werden. Sein positives Karma hätte ihm eine menschliche Geburt verschafft und sei damit nun verbraucht. Abgesehen davon hätte er kein positives Karma mehr, der Rest sei negativ und es gäbe für ihn keinen anderen Weg als nach unten. So weigerte sich Ananda, dem Mann die Ordination zu geben.

Der Mann ging noch zu anderen Lehrern, denn es gab einige Arhats wie Ananda zu der Zeit - aber alle sagten im das gleiche. Schließlich erzählte jemand dem Buddha von diesem Mann und fragte ihn, was man für ihn tun könne. Der Buddha hatte natürlich mehr Klarsicht als die Arhats und sah, dass der Mann noch einen einzigen positiven Samen in seinem Karma hatte. In einem früheren Leben war er einmal ein Schwein gewesen und hatte irgendwo im Schmutz rumgelegen. Einmal kam es an einer Stupa entlang und es ergab sich, dass das Schwein darum herum lief. Dies war der einzige positive Eindruck in seinem Geist. Aber Buddha sagte, dass das ausreiche, um ihm zu ermöglichen den Weg so zu gehen, dass er sich entwickeln könne. So wurde er also ordiniert und praktizierte.

Diese Geschichte zeigt, dass alles was wir tun eine Bedeutung hat. Selbst die kleinsten Handlungen zählen, was bedeutet, dass eine Handlung nie zu klein sein kann um sie zu tun oder zu unterlassen. Auch wenn wir nicht in der Lage sind, sehr große positive Sachen zu tun, dann ist es doch wichtig, einfach zu tun was geht und es nicht einfach nur ignorieren und für unwichtig zu halten. Übt auch die kleinsten positiven Handlungen, und unterlasst auch die kleinsten negativen Handlungen. Man denkt vielleicht, man könne ruhig etwas tun, was nicht ganz in Ordnung aber keine große Sache ist, warum nicht? Aber lasst es lieber, denn auch kleine negative Handlungen zählen. Wir sollten uns dessen bewusst sein und Gutes tun und Negatives unterlassen. Nur durch das Ansammeln positiver Eindrücke haben wir eine Chance, uns zu entwickeln und schließlich Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Dies ist der einzige Ausweg.

Wenn es um weltliche Ziele geht, strengen wir uns oft sehr an und nehmen viel auf uns, um sie zu erreichen. Aber wenn es um den Dharma geht, ertragen wir nicht mal die kleinsten Schwierigkeiten. Wir sind völlig in die Irre gegangen und was wir jetzt brauchen ist, dass wir uns in der Dharma-Praxis anstrengen, bereit sind, das zu ertragen und nicht so viel Energie in nicht-dharmische Projekte stecken. Das zu tun wird verglichen mit einem verrückten Mann, der in einen Fluß springt.

Die nächsten Erklärungen in Tsele Natsog Rangdröls Text richten sich an Mönche, Lamas und Lehrer. Er sagt, dass sie heutzutage oft davon reden, Buddhas Worte zu lehren, aber worum es geht ist, dass sie auch ihre Störgefühle aufgeben müssen. Wenn man selbst noch welche hat und vorgibt ein Lehrer zu sein, dann werden sie immer stärker werden. Diese Situation wird verglichen mit einer in Seide gehüllten Leiche. Es ist ein Anzeichen dafür, dass Buddhas Lehren niedergehen, wie ein Sonnenuntergang. Diese Belehrungen sind aber nicht für Euch relevant, sondern für Lehrer wie mich.

Der nächste Ratschlag im Text ist: Obwohl unser Leben uns davonläuft wie das Wasser eines Gebirgsbaches, denken wir immer noch, dass wir 100 Jahre hier bleiben können. Wir verhalten uns, als wären wir für immer hier. Es wäre aber nützlicher zu denken, dass wir jederzeit sterben könnten, vielleicht sehr bald schon. Wir verstricken uns in viele Aktivitäten, die zuviel Zeit beanspruchen, die wir nicht haben: Alles mit dem vorrangigen Ziel zu tun, dass die Leute einen mögen und man als wichtig gilt; Reichtum ansammeln aus Angst, dass man später nicht genug haben wird und im Alter hungern muss; einen Haufen Sachen und auch den Dharma zu lernen nur um des Wissens willen oder weil man jemand sein will, der berühmt ist für sein Wissen - und nicht weil man Leuten damit nutzen möchte. Das sind alles Aktivitäten, für die man nicht seine Zeit verschwenden sollte. Die nützlichste und bedeutungsvollste Praxis die wir tun können, ist verstehen zu lernen, dass dieses Leben nur eine Illusion ist. Alles ist wie in einem Traum, es hat keine unabhängige Realität. In dieser Weise etwas Mahamudra-Verständnis zu entwickeln, das ist wirklich wichtig.

Die eigentliche Praxis des "Bardo des Sterbens" ist zu verstehen, dass der Tod in sich selbst nichts ist, nur ein Konzept, ein Gedanke. Wenn er kommt, sollten wir gelernt haben, damit umzugehen wie mit all unseren Konzepten und Gedanken, nämlich sie sich in sich selbst auflösen lassen.
Für den Bardo des Klaren Lichts” müssen wir lernen, davon loszulassen, Dinge immer als entweder gut oder schlecht anzusehen, als etwas was wir haben oder vermeiden wollen. Dieser Bardo ist die wahre Natur unseres Geistes, nicht verschieden vom Wahrheitszustand. Der Wahrheitszustand ist jenseits dieser Kategorien, es gibt kein Mögen und Nicht-Mögen, sondern es ist ein in sich perfekter Zustand. All dieses Haften und diese Konzepte loszulassen, ist die eigentliche Praxis im Zusammenhang mit diesem Bardo.

Die Praxis für den "Bardo des Werdens" ist zu verstehen, dass alles was geschieht - ob in Samsara oder Nirvana - im Geist vor sich geht. Nichts ist verschieden vom Geist. Was wir brauchen ist, die Erkenntnis davon zu erlangen, was der Geist ist. Alles hat die Weisheits-Natur, ist Leerheit in seiner Essenz und in sich selbst perfekt - nicht verschieden von den drei Buddha-Zuständen.
Aber wir wissen das nicht, sind verschleiert und wandern deswegen durch die verschiedenen Bardos. Deswegen müssen wir alles was geschieht als das erkennen lernen was es ist, den Ausdruck von Weisheit. Das bedeutet auch, dass wir all unsere Erfahrungen weder blockieren noch zu halten versuchen sollten. Stattdessen sollten wir sie so belassen wie sie sind und ihre wahre Natur zu verstehen versuchen - wir verstricken uns nicht mehr in den Illusionen. Um Abstand von den Täuschungen zu bekommen und nicht mehr von ihnen eingefangen zu werden, brauchen wir Anweisungen. Dafür brauchen wir einen Lehrer, jemanden der uns die Methoden geben kann. Und natürlich müssen wir diese dann auch verwenden, um nützlich für andere zu werden.
Der Autor Tsele Natsog Rangdröl sagt am Ende seines Textes, dass er diese ganzen Erklärungen zu den Bardos gegeben hat, obwohl er selbst keine besonderen Qualitäten hat. Der Grund war, dass er so sehr darum gebeten wurde zu erklären, wie man die ganze Existenz in verschiedene Bardos aufteilen kann, was zu den essentiellen Methoden des geheimen Diamantweges gehört.
Er sagt, dass er nicht viel weiß, nicht studiert und nachgedacht hat - von Meditation ganz zu schweigen aber trotzdem diesen Text verfasst hat. Es gibt wichtige Bücher großer Gelehrter und Meister, die heutzutage nur irgendwo rumliegen. Keiner schaut hinein und die Vögel benutzen ihr Papier um Nester zu bauen. Da es diese Werke gibt, hat es eigentlich keinen Nutzen, dass jemand wie er, der nichts weiß, auch noch ein Buch verfasst. Wer würde das lesen wollen? Das gleiche gilt für mich, Tsechu Rinpoche: Es gibt so viele großartige geschickte Lehrer, die so viel mehr wissen als ich. Was hat es für einen Nutzen, wenn ich hier diesen Text erkläre?
Da der Autor aber denjenigen, der ihn so sehr darum gebeten hat, nicht enttäuschen möchte, gab er diese Erklärungen so gut er konnte, denn er hatte viele sehr gute Lehrer. Das was er von ihnen gelernt hat, schrieb er in diesem Text nieder. Auch ich, Tsechu Rinpoche, wurde sehr gebeten, diesen Text zu erklären. Obwohl ich eigentlich dafür nicht qualifiziert bin, habe ich es mit guter Motivation und dem Wunsch zu helfen, getan.
Am Ende des Werkes stehen dann noch Wünsche, dass all das Gute aus diesen Erklärungen, nachdem alle eventuellen Fehler gereinigt sind, den Wesen nützen möge. Möge es ihnen zur Erleuchtung verhelfen, damit sie frei werden von Samsara. Mögen auch die Lehren Buddhas in der Welt bleiben und sich ausbreiten, so dass die Wesen davon Nutzen haben.
Lehrer wie Tsele Natsog Rangdröl, der diesen Text verfasste, praktizierten sowohl Maha Ati als auch Mahamudra. Er selbst war ein Kagyü, erklärt die Bardos aber vor allem mit Bezug zum Maha Ati (der Hauptlehre der Nyingma-Schule), da die ganzen Belehrungen im Zusammenhang mit den Bardos vor allem mit der Nyingma-Schule verbunden sind.

(Aus dem Tibetischen ins Englische von Hannah Nydahl, ins Deutsche von Detlev Göbel)


Lopön Tsechu Rinpoche wurde 1918 in Bhutan geboren. Mit 13 Jahren ging er mit seinem Onkel und geistigen Lehrer Drukpa Rinpoche Sherab Lama nach Nepal, um dort zu studieren und zu meditieren. Rinpoche erhielt eine vollständige buddhistische Ausbildung und meditierte unter oft härtesten Bedingungen in den Höhlen Milarepas und den heiligen Stellen Guru Rinpoches. 1944 traf er den 16. Karmapa in Bhutan. Karmapa wurde einer seiner wichtigsten Lehrer und er erhielt von ihm die Lehren und Übertragungen der Kagyü-Linie. In den folgenden Jahren wurde Rinpoche sehr wichtig für die Buddhisten in Nepal. Aufgrund seiner jahrzehntelangen großen Aktivität dort gilt Rinpoche als eine Schlüsselfigur für den Zusammenhalt der unterschiedlichen buddhistischen Gemeinschaften in Nepal. 1987 besuchte er auf Einladung seiner ersten westlichen Schüler und engen Freunde Lama Ole Nydahl und Hannah Nydahl zum ersten Mal Europa. Seitdem reist er viel in West- und Ost-Europa, Nord- und Südamerika und in Australien, gibt Erklärungen und Ermächtigungen in den Karma-Kagyü-Zentren.