Das Leben Marpas - Teil 2Von Ulla und Detlev Göbel
Marpa Lotsawa - "Marpa, der Übersetzer" - war der erste tibetische Linienhalter der Kagyü-Schule. Sein Lebensbeispiel ist zusammen mit denen von Milarepa und Gampopa unter anderem deswegen besonders interessant, da diese die drei buddhistischen Lebensweisen repräsentieren. Marpa zeigt in seiner äußeren Lebensweise das Beispiel des Haushälters, des Laienbuddhisten, der sich neben seiner Praxis - beziehungsweise sogar als Teil der Praxis - um Hof, Geschäft und Familie kümmert. Milarepa ist das Beispiel für den Weg des Yogi, der alle äußeren und gesellschaftlichen Bindungen ablegt und sich nur noch einsgerichtet der Praxis widmet. Gampopa war der erste Mönch in der Kagyü-Linie. Er etablierte das erste Kloster und dient so als Beispiel für diesen Lebensstil. Diese Einteilung betrifft jedoch nur den äußeren Lebensstil, denn auf der Ebene der Sicht hielten alle drei die mit dem Diamantweg verbundene Sicht des Yogi.
Als Marpa nach seiner ersten Indienreise in seine Heimat Lhodrag zurückkam, mußte er feststellen, daß sein Vater und seine Mutter in den zwölf Jahren seiner Abwesenheit verstorben waren. Marpa spürte ein starkes Verlangen, seine Lehrer in Indien wiederzusehen und bereitete seine zweite Reise dorthin vor, indem er begann Gold anzusammeln. Seine Verwandten und die Bevölkerung in Lhodrag schätzten ihn zwar, jedoch erbaten sie keine Belehrungen von ihm und brachten ihm auch keine besondere Ehrerbietung entgegen. Marpas erste Schüler in Tibet waren Leute von außerhalb Lhodrags, die extra angereist kamen, weil sie von ihm gehört hatten und Dharma-Erklärungen von ihm erbaten. Marpa gab ihnen Ermächtigungen und Erklärungen, wofür ihm die Leute Opferungsgaben schenkten. In dieser Zeit traf Marpa auf seinen Reisen einige der Männer, die später seine Hauptschüler wurden: Ngoktön Chödor, Marpa Golek, Tsurtön Wangnge und Baram Bawachen. Er gab in dieser Zeit viele Ermächtigungen und Belehrungen und vollführte erfolgreich Rituale gegen den zu der Zeit anscheinend häufig auftretenden "plötzlichen Kindstod". Im Gegenzug erhielt er sehr viele Geschenke, die er alle gegen Gold eintauschte, da dieses später am leichtesten nach Indien zu transportieren sein würde. Marpa Golek - einer seiner späteren Hauptschüler - bekam einmal mit, daß Marpa eine große Menge feiner Kleidung geschenkt bekommen hatte und mit sich führte, selbst aber nur alte und einfache Sachen trug. Zuerst hielt er Marpa für geizig und dachte, er hafte an den Kleidungsstücken an und wolle sie nicht auftragen. Als Marpa ihm jedoch erklärte, daß er sie gegen Gold tauschen wolle, um damit nach Indien zu reisen und Dharmabelehrungen zu erhalten, war Golek von Marpas Hingabe bewegt und faßte viel Vertrauen in ihn. Marpa heiratete zu dieser Zeit auch seine Hauptfrau Dagmema, mit der er später sieben Söhne hatte. In den offiziellen Biographien nicht oder nur am Rande erwähnt, ist die von einigen Lamas mündlich weitergegebene Überlieferung, daß Marpa viele weitere Gefährtinnen an verschiedenen Stellen in Tibet hatte, die die von ihm gegründeten Dharmazentren betreuten. Zweite Reise nach IndienAls bekannt wurde, daß Marpa tatsächlich Anstalten machte, zu einer zweiten Reise nach Indien aufzubrechen, baten viele Schüler darum, ihn begleiten zu dürfen, was er jedoch ablehnte. Stattdessen machte er sich mit einer großen Menge Gold allein auf den Weg. Wie schon beim ersten Mal führte ihn seine Reise über Nepal, wo er die beiden Lamas Chitherpa und Paindapa wiedertraf. Zusammen mit einigen weiteren Weggefährten erreichte er einige Zeit später ohne größere Schwierigkeiten Indien.Marpa vertiefte seine Studien bei seinen Hauplehrern Naropa und Maitripa und lernte auf Naropas Geheiß hin auch bei anderen großen Meistern wie Sri Bhadra, Kukkuripa, der Dakini Niguma, Jnanagarbha, Simhadvipa und anderen. Einmal war Akarasiddhi, ein großer buddhistischer Gelehrter aus Kashmir, bei Naropa zu Besuch. Er erbat zwar von Naropa Ermächtigungen und Erklärungen zum Guhyasamaya, wurde ansonsten aber von diesem als seinesgleichen begrüßt. Er erzählte Marpa, daß er vorhabe, nach China zu reisen. In diesem Moment ging Marpa durch den Kopf, daß ihn selbst später in Tibet weniger Menschen um die Guhyasamaya-Belehrungen bitten werden, wenn dieser große Gelehrte zuvor dort auf der Durchreise gelehrt habe. Da Akarasiddhi übernatürliche Fähigkeiten hatte, erkannte er Marpas Gedanken, sagte jedoch nichts und reiste nach Tibet ab. Dort wurde ihm bewußt, daß er nicht die karmische Verbindung zu den Tibetern hatte, um ihnen im großen Umfang nutzen zu können. Akarasiddhi erkannte, daß Marpa eine Ausstrahlung des Mahasiddhas Dombi Heruka war, und daß die Tibeter mit Vertrauen in den Diamantweg nur zu ihm eine tiefe karmische Verbindung hatten. Er reiste nach Indien zurück und sprach mit Marpa über dessen Gedanken und wie sich alles entwickelt hatte.
Rückkehr nach der zweiten ReiseBevor Marpa nach sechs Jahren die Rückreise nach Tibet antrat, trug ihm Naropa auf, unbedingt noch einmal zu ihm zurückzukommen, da er noch weitere Belehrungen habe, die er ihm übertragen wolle. Auf seiner Reise durch Tsang in Zentraltibet lernte Marpa Metön kennen, der ein weiterer seiner späteren Hauptschüler werden sollte. Zusammen mit seiner Familie und vielen Schülern lebte er daraufhin viele Jahre in Lhodrag. In dieser Zeit kam auch der wichtigste seiner Schüler, sein Hauptlinienhalter Milarepa, zu ihm. Milarepa sollte der berühmteste der großen Yogis Tibet werden, weit über den kulturellen Rahmen Tibets und über den Buddhismus hinaus.Zu jener Zeit war davon für einen normalen Menschen noch nicht soviel erkennbar. Milarepa hatte gerade aus Rache für schlimme Ungerechtigkeiten, die seiner Mutter und Schwester sowie ihm selbst angetan worden waren, mit schwarzer Magie 35 Menschen ermordet. Danach wurde er von furchtbaren Gewissensbissen geplagt und beschloß aus Angst vor den karmischen Folgen seiner Taten den Dharma zu praktizieren. Marpa gab ihm jedoch lange Zeit keine Erklärungen, sondern ließ ihn wie einen Sklaven Häuser bauen, wieder einreißen und neue bauen und so fort. Unter Marpas Söhnen war es insbesondere einer namens Darma Dode, von dem Marpa hoffte, daß dieser einmal sein Linienhalter werden würde. Für ihn baute Milarepa schließlich auf Marpas Anordnung eigenhändig ein neunstöckiges Haus. Marpa behandelte Milarepa die ganze Zeit über ausgesucht schlecht: Er schrie ihn an, prügelte ihn, betrank sich und gab dann widersprüchliche Anweisungen usw. Erst nach langer Zeit, nachdem Milarepa in seiner Verzweiflung ernsthaft an Selbstmord gedacht hatte, und Marpas Schüler und seine Frau Dagmema ihn massiv bedrängten, gab er Milarepa Ermächtigungen und Erklärungen. Nun endlich erklärte er auch sein ungewöhnliches Verhalten: Das große negative Karma Milarepas hätte nur durch diese "Sonderbehandlung" schnell entfernt werden können, was wiederum nur möglich war, weil Milarepa ein so bedingungsloses Vertrauen zu Marpa hatte. Später sagte ihm Marpa, daß kein Schüler in der Zukunft mehr so behandelt werden könne. In den darauffolgenden Jahren lebte Milarepa bei Marpa und lernte und meditierte, bis er später einige Jahre ganz allein in der Bergwildnis praktizierte und volle Erleuchtung erlangte.
Dritte Reise nach IndienMarpa schickte sich an, eine weitere Reise nach Indien anzutreten, denn schließlich hatte er dies seinem Lehrer versprochen. Er reiste umher, gab Dharmakurse und sammelte Opferungen, um sie gegen Gold einzutauschen. Als er einmal gerade dabei war, die abschliessenden Verse eines Ermächtigungsrituales zu rezitieren, gaben ihm drei Dakinis in einer Vision die Erklärungen zu einem mystischen Lehrgesang Naropas, den er bisher nicht verstanden hatte. Auch Milarepa, der gerade eine Zurückziehung machte, hatte eine Vision, in der eine Dakini ihm sagte, er solle Marpa nach der Belehrung zur "Bewußtseinsübertragung" fragen. Milarepa verließ seine Zurückziehung, ging zu Marpa und bat um die Belehrungen. Marpa erkannte die Vision als ein Zeichen der Dakinis und erinnerte sich, daß Naropa zwei Belehrungen erwähnt hatte, die er noch bekommen sollte: Die "Bewußtseinsübertragung" und die "Geflüsterten Dakini-Lehren". Um sicherzugehen, schauten Marpa und Milarepa noch einmal die Texte durch, die Marpa aus Indien mitgebracht hatte. Sie konnten aber diese Belehrungen nicht finden. Für Marpa waren diese Visionen Zeichen, daß die Zeit für eine neue Reise nach Indien gekommen war.Seine Schüler und seine Familie sahen das jedoch anders und versuchten ihn mit all ihren Überredungskünsten und Tricks davon abzuhalten. Sie führten ihm sein Alter und die Gefahren der Reise vor Augen und schlugen vor, daß er seinen Sohn Darma Dode schicken solle. Marpa erklärte jedoch, daß er Naropa versprochen habe, selbst zu kommen, sich außerdem dort gut auskenne und sein Sohn auch noch so jung sei, daß sich alle um ihn sorgen würden. Marpa sagte immer wieder, daß er auf jeden Fall gehen werde, auch wenn ihn die Reise das Leben kosten würde. Als in dieser Weise alle Überredungsversuche nichts genutzt hatten, versteckten sie schließlich Marpas Gold und seine Reisevorräte. Daraufhin lief Marpa nachts aus dem Haus davon, um ohne alles nach Indien zu reisen. Milarepa fand ihn am nächsten Tag und die Schüler überredeten ihn, wenigstens für eine gewisse Zeit zurückzukehren. Ohne auf die Bitten der Schüler einzugehen, daß ihn jemand begleiten solle, reiste er einige Zeit später mit einer großen Schale Goldstaub ab. Auf dem Weg traf Marpa den großen indischen Gelehrten Atisha, der kurz zuvor nach Tibet gekommen war. Er war neben Marpa die zweite wichtige Persönlichkeit bei der Erneuerung des tibetischen Buddhismus in dieser Zeit. Ein ehemaliger König aus Westtibet, der die Macht an seinen Bruder übergeben hatte und Mönch geworden war, hatte ihn eingeladen. Infolge der langen Zeit ohne authentische Belehrungen, nach der Herrschaft des dem Buddhismus feindlich gesonnenen König Langdharma, gab es das Bedürfnis, durch buddhistische Meister aus Indien klären zu lassen, welche Teile des tibetischen Buddhismus noch authentisch waren und welche nicht. Atisha lehrte in Tibet insbesondere die monastischen Aspekte des Mahayana-Buddhismus. Sein Wissen und seine Erfahrung über den Diamantweg konnte er leider kaum weitergeben, da zu dieser Zeit - so ein Zitat von Milarepa - "das Herz des tibetischen Volkes von einem Dämon besessen war". Die Aufgabe, in grossem Umfang die tantrischen Übertragungen nach Tibet zu bringen fiel Marpa zu. So sagt man auch: Atisha brachte das "Gefäß", also die Wiederbelebung äußerer, monastischer Formen, sowie die Mahayana-Grundlage, und Marpa brachte den "Inhalt", also die Diamantwegsmethoden und das Mahamudra. Atisha betonte insbesondere so unaufhörlich die Bedeutung der Zuflucht, daß er sogar den Namen "der Zufluchtslama" bekam. Atisha hatte an einer großen buddhistischen Universität in Indien zur gleichen Zeit eine leitende Stellung innegehabt, als auch Marpas Hauptlehrer Naropa und Maitripa dort wirkten. Er hatte viele Belehrungen von Naropa erhalten, Maitripas Fähigkeiten jedoch zuerst nicht erkannt: Da dieser insgeheim Diamantwegspraktiken geübt hatte, die den äusseren Verhaltensregeln des Klosters zuwiderliefen, aber dabei "erwischt" worden war, hatte Atisha ihn des Klosters verweisen lassen. Bei seinem Weggang zeigte Maitripa jedoch so überzeugende Wunder, daß allen klar wurde, daß sie soeben einen hochverwirklichten Meister davongeschickt hatten. In einer Vision forderte "Befreierin" (Tara) Atisha auf, in Tibet zu lehren, unter anderem um diesen "Fehler" wiedergutzumachen. Marpa empfing von Atisha eine Ermächtigung und fragte ihn nach Naropa. Atisha sagte ihm, daß es nicht mehr möglich sei, Naropa in menschlicher Form zu treffen, da dieser "ins Handeln eingetreten" sei. Dieser Diamantwegs-Ausdruck bezeichnet eine hohe Phase der Praxis, wo der Praktizierende alle Konzepte von Meditation und Nichtmeditation aufgegeben hat und in einer Weise lebt, die völlig jenseits der Vorstellungswelt normaler Menschen ist. Es ist nicht mehr möglich zu sagen, wo ein solches Wesen anzutreffen ist und wie man ihm in gewöhnlicher Weise begegnen kann. Nur Schülern mit sehr viel Vertrauen und Hingabe ist das überhaupt möglich, aber selbst in ihrem Fall ist es nicht sicher. Atisha schlug vor, daß Marpa lieber als sein Übersetzer mit ihm in Tibet reisen solle. Marpa konnte sich jedoch nicht vorstellen, daß er seinem Lehrer nicht mehr begegnen könnte und reiste weiter. Die Nachricht wurde jedoch auch von den beiden Lamas in Nepal bestätigt. In Indien traf Marpa Prajnasimha, dem Naropa das Kommen von Marpa angekündigt und Sachen für ihn hinterlassen hatte, unter anderem ein Bild von Hevajra. Prajnasimha riet ihm, zuerst zu Maitripa zu gehen, um dort intensiv auf Naropa zu meditieren. Über acht Monate lang suchte Marpa nach Naropa. Zuerst besuchte er seine früheren Lehrer, praktizierte bei ihnen und rief Naropa an. Dann wanderte er von Stadt zu Stadt, manchmal allein, manchmal mit Gefährten, und fragte überall nach Naropa. Zwischendurch wurde ihm von einem bösen König, der es auf sein Gold abgesehen hatte, erst eine Priesterstellung angeboten, dann jedoch kam er für einige Tage ins Gefängnis. Manchmal bekam er Hinweise von Leuten, die ihm wieder Vertrauen gaben, immer wieder hörte er auch Naropas Stimme zu ihm sprechen und ihm kurze Belehrungen geben. Für kurze Momente sah er manchmal Naropa und hatte dann wieder starke Visionen von Begegnungen mit ihm. Im achten Monat schließlich, als Marpa tief deprimiert über seine erfolglose Suche war, erschien ihm in einem Wald zuerst das Mandala des Buddha-Aspektes Hevajra, der Marpas persönlicher Yidam war. Er verstand sofort, daß dies ein Ausdruck von Naropas Geist war und rief nach Naropa, der ihm nun endlich erschien. Überwältigt vor Freude, mit Tränen in den Augen, umarmte er ihn ungestüm und fiel vor Freude gar in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, machte er sich daran, Naropa den mitgebrachten Goldstaub zu opfern. Obwohl Naropa sagte, daß er ihn nicht wolle, bedrängte Marpa ihn immer weiter, das Opfer anzunehmen, bis Naropa den Goldstaub schließlich nahm und einfach in die Büsche warf. Bei all seiner Freude ging Marpa nun doch durch den Kopf, wieviel Mühe es ihn gekostet hatte, dieses Gold zu sammeln, aber da sagte Naropa schon: "Wenn du Verlustgefühle empfindest: Hier hast du es zurück. Ich brauche kein Gold. Wenn ich es bräuchte, so wäre sowieso alles Gold für mich." Mit dieser Bemerkung berührte er mit seinem Fuß den Boden und der Erdboden verwandelte sich in Gold. Bei diesem dritten Aufenthalt bei seinem Lehrer hatte Marpa schwere Hindernisse zu überwinden und Reinigungen durchzustehen. Schon auf dem Weg nach Phullahari wurde er von unerleuchteten Dakinis und Geistern angegriffen, die ihn trotz all seiner bereits erlangten Fähigkeiten und der Gegenwart seines Lehrers in blanke Angst versetzten. Im Bestreben seinem Lehrer nahe zu bleiben, lief Marpa durch einen soliden Felsen wie durch eine Wolke. Obwohl Naropa selbst ihn auch hätte schützen können, rief Naropa seinen Lehrer Tilopa an, der in Form von unzähligen zornvollen Buddhaaspekten erschien, die die Geister vertrieben. In Phullahari erbat Marpa von Naropa die besonderen Belehrungen, die er bekommen sollte. Naropa fragte ihn, wie es zu der Bitte um die "Bewußtseinsübertragung" gekommen sei. Als Marpa von Milarepas Vision erzählte, beugte Naropa seinen Kopf in Richtung Tibet und sagte: "Wie wundervoll! Im dunklen Land Tibet gibt es ein Wesen, das wie die Sonne über dem Schnee aufgeht." Es heißt, daß sich in diesem Moment alle Berge und Bäume Indiens in die gleiche Richtung neigten, und daß man diese Neigung noch heute in der Nähe von Phullahari sehen kann. Marpa erhielt nun von Naropa die "Geflüsterten Dakini-Lehren" und die Belehrungen zur "Bewußtseinsübertragung". Der Ausdruck "geflüstert" bezieht sich darauf, daß solche Lehren immer nur direkt und mündlich vom Lehrer an den Schüler gegeben werden. "Dakini-Lehren" rührt daher, daß sie Naropas Lehrer Tilopa direkt von "Diamantsau" (Dorje Phagmo) - der Hauptdakini im Kraftkreis des Buddha "Höchste Freude" (tib.: Demchog) - erhielt. So beziehen sich diese Lehren auch auf ganz essentielle Aspekte der Praxis auf die Buddhaaspekte Demchog und Dorje Phagmo. Naropa erklärte Marpa, daß diese Lehren die Essenz seien von allem, was er bisher gelernt habe. Er trug ihm auf dafür zu sorgen, daß diese Belehrungen dreizehn Generationen lang immer nur von einer einzigen Person gehalten und erst danach weiter verbreitet werden. So wurden sie denn auch über Milarepa, Gampopa, den ersten Karmapa usw. immer nur vom jeweiligen Linienhalter bewahrt und erst in der Zeit nach dem fünften Karmapa an mehrere Schüler gelehrt. Marpa dachte sich, daß die Lehren, die er erhalten hatte, sich vor allem in der Tiefgründigkeit und der Wirksamkeit von den zuvor Erhaltenen unterschieden. Er fragte sich, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, gleich mit diesen starken Mitteln zu arbeiten. Als er mit Naropa darüber sprach, antwortete ihm dieser, daß Marpa ohne all die Entbehrungen und Anstrengungen, die er für das Erhalten des Dharma auf sich genommen hatte, keinen Nutzen von diesen hohen Praktiken gehabt hätte. Er führte sich selbst als Beispiel an und erzählte von den Prüfungen, die er auf sich genommen hatte, um von seinem Lehrer Tilopa die Lehren zu bekommen. Später sang Marpa einmal in einem Vajra-Lied: "Wenn ihr nicht die Übertragung der Kagyü-Linie bekommen habt, so hofft nicht durch die wortklauberischen Klügeleien der Gelehrtenlinien in einem Leben Erleuchtung zu erlangen. Wenn ihr aber vorhabt, mit ganzem Herzen den Dharma zu praktizieren, dann haltet euch an die Linie von Naropa und Maitripa." Die andere große Belehrung, die Marpa von Naropa erhielt, die "Bewußtseinsübertragung" (tib.: Phowa Tronjug), sollte bei Marpas späterer Aktivität in Tibet noch eine große Rolle spielen. Bei dieser Variante des Phowa geht es nicht darum, den Geist beim Sterben in ein Reines Land zu schicken, sondern ihn vor dem eigenen Tod in den Körper eines kurz zuvor Verstorbenen zu übertragen. Vorausgesetzt dieser Körper ist weitgehend intakt, ermöglicht diese Praxis, die lange Unterbrechung durch Geburt, Kindheit usw. zu umgehen und das Leben in einem anderen Körper fortzuführen. Was uns heutzutage vielleicht recht befremdlich und sogar etwas makaber erscheinen mag, war tatsächlich gedacht als ein Mittel für einen großen Praktizierenden, die eigene Praxis und Dharmaaktivität zum Wohle der Schüler möglichst ununterbrochen fortzuführen. Eines Tages beschloß Naropa nachzuprüfen, welche glückverheißenden Umstände es im Zusammenhang mit Marpas Fähigkeit zum Halten der Linie gäbe. Am nächsten Morgen, als Marpa noch schlief, manifestierte Naropa die riesige Licht- und Energieform des Buddha-Aspektes Hevajra am Himmel. Dann weckte er Marpa und sagte: "Schau, dein Yidam ist erschienen. Vor wem verbeugst du dich nun, vor ihm oder vor mir?" An diesem Punkt in seiner Entwicklung hätte Marpa es eigentlich besser wissen müssen. Aber aufgrund eines karmischen Schleiers verbeugte er sich vor dem Yidam statt vor seinem Lehrer. Naropa löste daraufhin die Form von Hevajra in Licht auf und das Licht strahlte in sein Herz. Dann sagte er zu Marpa: "Bevor es einen Guru gab, war nicht einmal der Name Buddhas zu hören. All die Buddhas der 1000 Weltzeitalter entstehen nur durch einen Guru." Naropa erklärte Marpa dann die tiefere Bedeutung dieses Ereignisses: Marpas Dharmalinie würde sich nicht in seiner Familie fortpflanzen. Marpa hatte immer den Wunsch gehabt, daß sein Sohn Darma Dode einmal sein Linienhalter werden würde. Dazu werde es nicht kommen, sagte ihm Naropa, jedoch werde die Kagyü-Linie an sich solange existieren wie die Lehren Buddhas selbst. Das Ereignis stand für Marpa zu Beginn einer schweren Reinigung; er wurde in sehr kurzer Zeit sehr viel negatives Karma los. Marpa war längere Zeit schwer krank, kam 13 mal dem Tod nahe, fiel dreimal ins Koma, litt unter Depressionen und Alpträumen. Seine Dharmabrüder und -Schwestern kümmerten sich in dieser Zeit um ihn; sie praktizierten an seiner Seite, bauten Schutzkreise um ihn auf und diskutierten medizinische Behandlungen und heilende Rituale. Marpa lehnte aber jede besondere Hilfe ab und sagte ihnen, daß seine Genesung allein davon abhänge, ob die Tibeter genug gutes Karma hätten, um von ihm später den Dharma gelehrt zu bekommen. Anderenfalls sei sowieso jede Mühe vergeblich. In der Tat erholte er sich im Laufe der Zeit und behielt nur noch eine tiefe Traurigkeit zurück. Anläßlich seiner Genesung gab Naropa ein Fest und sang ein Vajra-Lied, in dem er tiefgründige Praxisanweisungen gab. Dieser Eindruck auf Marpa war so stark, daß sich seine Depressionen endgültig auflösten. Als er kurz danach zusammen mit Naropa ein Bad nahm, stahl eine Krähe den Schützer, den Marpa sonst immer um den Hals trug. Mit einer Kraftgeste paralysierte Naropa den Vogel, der vom Himmel fiel, gab Marpa den Schützer wieder und sagte ihm, daß er von nun an keine Hindernisse mehr haben würde. Für Marpa nahte die Zeit, nach Tibet zurückzukehren. Ihm und Naropa war klar, daß sie sich in diesem Leben nicht mehr wiedersehen würden. Marpas Reisen hatten 21 Jahre gedauert und er hatte 16 Jahre und sieben Monate davon bei seinem Lehrer Naropa verbracht. Er hatte bei 13 der größten Gurus jener Zeit gelernt und die höchsten Vajrayana-Lehren erhalten und praktiziert. Marpa war sich voller Freude bewußt, daß er seine Zeit gut genutzt hatte. Zugleich war er traurig, seine Lehrer und seine Dharmageschwister zu verlassen. Bei einer großen Abschiedsfeier sprach Naropa die später berühmt gewordenen Worte: "Obwohl deine Familienlinie in diesem Leben unterbrochen wird, so wird deine Dharmalinie wie ein weiter Fluß fließen, solange Buddhas Lehren bestehen bleiben. In den Augen einiger unreiner Leute wird es so aussehen, als würdest du dich in diesem Leben den Sinnesfreuden hingeben. Deine Begierden werden unveränderlich erscheinen, wie aus Stein gemeißelt, solide und groß. Andererseits aber ist, da du die wahre Natur der Dinge erkannt hast, Samsara selbstbefreiend, wie eine sich selbst entknotende Schlange. Die zukünftigen Schüler der Linie werden wie Kinder von Löwen und Garudas sein, und jede Generation wird besser sein als die vorhergehende." Zum Schluß ernannte ihn Naropa zu seinem Linienhalter, schickte ihn zurück nach Tibet und versprach, daß sie sich nach diesem Leben in den Reinen Ländern wiedertreffen würden. Autoren: |
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