Mitgefühl - die Sprache eines BodhisattvasS.H. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje
Die Dharma-Praxis beinhaltet bestimmte Möglichkeiten. Wie sich diese für den Praktizierenden zu tatsächlichen Situationen entwickeln, und wieviel in diesen Situationen machbar ist, hängt von den Fähigkeiten des individuellen Wesens ab. Es kommt darauf an, mit welcher Ebene von Belehrungen - wie etwa Mahayana oder Hinayana - man etwas anfangen kann. In unseren Leben ist es derzeit möglich, die Mahayana-Lehren zu praktizieren, was etwas sehr Wertvolles und sehr Seltenes ist. Unser Interesse an Entwicklung und unser Sinn für Verantwortung haben uns in eine Situation geführt, wo es möglich ist, die Kostbarkeit und Seltenheit der Mahayana-Lehren in unser Leben zu bringen. Dadurch ist es möglich, nicht mehr in Samsara zurückzufallen und daß man die Erfahrung der letztendlichen Freude, welche selbst-gewahr ist und in welcher es keine Zweifel mehr gibt, macht.
Inmitten unserer Verwirrung könnte es passieren, daß wir auf den Gedanken kommen, daß der Dharma immer da sein wird, gleich ob wir praktizieren oder nicht. Wenn Ihr so eine Idee habt, dann ist das ein sehr ernster Fehler, denn jeder kurze Moment und jede Zeit überhaupt, die man für die Dharma-Praxis nutzen könnte, muß man dafür nutzen. Wenn man diese Verantwortung nicht annimmt und den Mahayana- und Vajrayana-Lehren nicht ernsthaften Respekt erweist, besteht tatsächlich die Möglichkeit, daß man sich selbst und den mit einem verbundenen spirituellen Freunden schadet. Ein Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber den Verpflichtungen des Mahayana-Weges bedeutet, daß man seine Samayas bricht. Deswegen sollte man sich in jeder Weise, die einem möglich ist, ernsthaft an die Lehren halten. Wenn Ihr die Lehren für nebensächlich haltet, wird sich diese Einstellung sehr zu Eurem Nachteil auswirken. Tatsache ist, daß Euch die Lehren sehr verschlossen sind, so daß Ihr nicht wirklich Mutmaßungen darüber anstellen könnt. Andererseits wurde die Gültigkeit der Belehrungen durch ihre zeitlose Effektivität seit der Zeit Buddhas bis heute bezeugt. Das ist etwas, worauf man sich verlassen kann. Ihr solltet wirklich erkennen, wie außergewöhnlich kostbar die Belehrungen sind, so daß Euch klar wird, daß es eigentlich nichts Wichtigeres in diesem und in späteren Leben gibt, als den Dharma zu praktizieren. Wir wissen, daß man im Geschäftsleben, einer gewöhnlichen weltlichen Situation, Pläne für ein Projekt macht und daß man genau weiß, was es einen kosten wird - vielleicht eine Millionen Dollar. Jedes Detail des Projekts wird mit äußerster Sorgfalt bedacht. Einem solchen Projekt wird in der Geschäftswelt absolute Wichtigkeit beigemessen, und es wird viel Energie investiert, um es zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Wenn man sich für ein Resultat, dessen Natur so vergänglich ist, so sehr anstrengt, warum nicht zumindest genau soviel Energie in ein Projekt investieren, das einem sowohl zeitweiligen als auch letztendlichen Nutzen bringt? Wenn Ihr eine Ermächtigung oder Belehrung empfangt und dieses Verständnis von der Bedeutung des Dharma habt, dann ist Eure Beziehung zu den Mahayana-Lehren zweckvoll und wird die entsprechende Frucht bringen. Wenn Ihr Euch den Belehrungen verbindlich widmet, werdet Ihr fähig sein, direktes und sinnvolles Vertrauen in die Lehren und ernsthaftes Mitgefühl den Wesen gegenüber zu entwickeln. Es wird ein echtes Verständnis des universellen Wirkens von Karma, dem Gesetz von Ursache und Wirkung, entstehen. Die Wünsche und Handlungen eines Bodhisattva sind so kraftvoll, weil er - seit er sich auf den Pfad zur Erleuchtung begeben hat - bestimmt, eindeutig und kraftvoll wünscht, zum Wohle und zur Befreiung aller fühlenden Wesen zu arbeiten. Aufgrund des ernsthaften Entschlusses in diesem Wunsch werden alle Handlungen, die nötig sind, um Wesen zu nutzen und sie zu befreien, mit großer Kraft und Unermüdlichkeit ausgeführt. Durch den Wunsch, den Wesen zu helfen, wird dieser tiefgründige Weg beschritten, und beim Durchlaufen der verschiedenen Bodhisattva-Stufen stellt man fest, daß man immer mehr Fähigkeit erlangt, zahllosen Wesen zu nutzen. So betritt ein Bodhisattva den Weg. Wenn er mit solch angemessenen Wünschen und Handlungen zum Wohle der Wesen arbeitet, findet er völlige Erfüllung, welche in dem Sinne angemessen ist, daß es darin keine Selbstsucht gibt; es gibt keine Erwartungen, Zweifel, Hoffnungen, Anhaftungen oder Abneigungen hinsichtlich Gewinn oder Verlust irgendeiner Art. Der Bodhisattva ist völlig rein und makellos und arbeitet ununterbrochen und mit ganzem Herzen zum Wohle der Wesen. Es gibt nicht einen Moment von Zögern oder Zweifel, denn diese Hindernisse wurden überwunden. Das Handeln des Bodhisattvas ist sanft, da alle schädlichen Handlungen und alles Sich-gehen-lassen aufgegeben wurde. Es wurden nicht nur die negativen Handlungen selbst aus seinem Leben entfernt, sondern ebenso das Schaffen von Ursachen für zukünftige negative Situationen. Er arbeitet ausschließlich zum Wohle der Wesen, nicht nur mit direkten Taten, sondern auch, indem er die Grundlage für späteren Nutzen legt. Wenn diese Bodhisattvas zu arbeiten beginnen, sind sie fähig, den Wesen unermeßlichen Nutzen zu bringen, indem sie furchtlose Freigebigkeit ohne Zweifel und Erwartungen manifestieren, wie der große Bodhisattva des Grenzenlosen Mitgefühls, Chenresig, oder der Bodhisattva der Grenzenlosen Kraft, Vajrapani, usw. Alle in der großen Versammlung der Bodhisattvas sind gleichermaßen kraftvoll und gleichermaßen nützlich für zahllose Wesen, so daß alle Dinge ihnen zu gehorchen scheinen. Machmal lassen sie schöne Lotusblüten und Lotusbäume aus der Mitte eines Ozeans wachsen, oder sie verwandeln eine Träne in einen Ozean. Alles in der Natur hört auf den Bodhisattva. Feuer kann als Wasser erscheinen; Wasser kann als Feuer erscheinen. Der Grund dafür ist die Stärke der Einstellung, des Wunsches und der Taten des Bodhisattvas. Für uns bedeutet dies, daß der Praxis von Mitgefühl volle Aufmerksamkeit gewidmet werden muß, daß sie uns immer bewußt sein sollte und wir uns immer in ihr üben sollten. Wenn jemand zu meditieren versucht - zum Beispiel auf die Leerheit, Shunyata - sollte er sich einerseits immer auf die erleuchteten Objekte der Zuflucht ausrichten und andererseits ständig echtes Mitgefühl gegenüber den Wesen in sich erzeugen. Die wahre Natur der Leerheit ist Mitgefühl. Ohne die Erfahrung der Fülle von Mitgefühl hat es keine Bedeutung, wenn jemand behauptet, die Leerheit erkannt zu haben. Ihr habt jetzt die Möglichkeit, die Belehrungen zu empfangen. Es gibt Lehrer und Einrichtungen dafür. Ihr habt viele Ebenen von Belehrungen erhalten und es ist wichtig, daß Ihr nicht den springenden Punkt verfehlt, nämlich das was gelehrt wurde, in die Praxis umzusetzen. Das ist von absoluter Wichtigkeit. Ich betone heute etwas, was Ihr schon oft gehört haben müßt. Und doch ist es immer noch nötig, Euch darauf hinzuweisen, dies alles in Euer Leben zu integrieren, Geistesgegenwart und Respekt zu haben, und das was man verstanden und bekommen hat, wirklich zu schätzen. Es ist wichtig, die Lehren umzusetzen und für das vollständige Verstehen ihrer Bedeutung zu arbeiten. Und zu diesem Zweck ist wiederum die Bodhicitta-Praxis der wichtigste Faktor. Wie Ihr Euch allmählich auf dem Vajrayana-Pfad bewegt, ist Bodhicitta an jedem Punkt unerläßlich. Wenn die tiefgründigen Techniken des Vajrayana nicht durch Bodhicitta unterstützt werden, wird man nicht unbedingt bedeutungsvolle Erkenntnisse haben. Ihr seht also, daß alles in der Praxis von Bodhicitta wurzelt und es schafft günstige Umstände für die Entwicklung von Bodhicitta, wenn man alles ernsthaft verfolgt, was die Bodhicitta-Praxis verstärkt und unterstützt. Ein Beispiel für eine Mittel zum Entwickeln von Bodhicitta ist Pratimoksha. In der Pratimoksha-Tradition gibt es sieben Familien oder Ebenen von Pratimoksha, oder Selbstdisziplin. Sie sind als "Vorschriften" oder "Gelübde" bekannt. Die Zuflucht ist die wichtigste Voraussetzung für die Praxis der Disziplin. Danach nimmt man die von den anderen Gelübden, die einem möglich sind. Dies stärkt die Bodhicitta-Praxis und ermöglicht Euch, den Weg des Buddha-Dharma einfacher, ernsthafter und vernünftiger zu gehen. Die Wichtigkeit der Anwendung der Selbstdisziplin, der Gelübde, sollte nicht vernachlässigt werden. Die Muster der drei Geistesgifte Aggression, Anhaftung und Unwissenheit sind tief verwurzelt. Wenn man sie lösen und das richtige Gegenmittel gegen die drei Gifte anwenden will, sind die im Pratimoksha dargelegten Praktiken der Disziplin das nötige Werkzeug dazu. Was die Prinzipien des Mahayana betrifft, so sollten wir praktizieren, indem wir die Mahayana-Ideale von denen wir sprachen - Entwicklung der Erleuchtungshaltung und der Wunsch, nach Nutzen und Befreiung aller Wesen - leben. Aus materieller Sicht ist dieses Land (Anm.: USA) sehr reich, was bedeutet, daß das Leben für alle Leute viel geschäftiger ist als in anderen Teilen der Welt. Die Menschen sind von allen möglichen weltlichen Anforderungen beschlagnahmt. Wegen der überwältigenden weltlichen Interessen, die einen umgeben, nimmt die Geschwindigkeit der Lebensaktivitäten zu. Eine geschäftige Situation führt zu der nächsten und so weiter und so weiter. Ihr seid immer geschäftig. Die Wahrheit der zyklischen Existenz zeigt sich sehr deutlich in Euren Leben. Um diesem Zustand der Dinge entgegenzuwirken, muß man erst einmal den Geist beruhigen. Seid nicht völlig von Eurer Umgebung eingenommen. Entwickelt ein gewisses Maß an Stille. Kultiviert einfach Geisteskontrolle, Ruhe. Man sollte zumindest etwas Offenheit des Geistes entwickeln. Ganz gleich, wer Ihr seid; jeder sollte zuerst die grundlegenden Meditationspraktiken üben, die speziell dazu dienen, Ruhe in den Geist von Wesen zu bringen, die in ständiger Geschäftigkeit verfangen sind. Dies ist der erste Schritt in die Praxis des Dharma, der so wichtig für uns selbst und andere ist. Wenn Ihr die Wahrheit des Dharma sehen und schätzen könnt, und im Lichte dieser Hochachtung weiter praktiziert, werdet Ihr zweifellos für die Wesen denen Ihr begegnet, und insbesondere für dieses Land, von gewaltigem Nutzen sein. Es gäbe dann keinen Zweifel an Eurer Fähigkeit, Wesen vor zahllosen Problemen und Konflikten zu bewahren. Die Dharma-Praxis sollte also sehr ernst genommen und ernsthaft praktiziert werden. Sie spielt eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung unseres Lebens, und zwar nicht nur dieses Lebens, sondern aller zukünftigen Leben. Wenn man sowohl zeitweiliges als auch letztendliches Glück sucht, ist die unvergleichliche und verläßliche Bedingung dafür die Dharma-Praxis. Die Vorstellung von Wahrnehmung einerseits und einem, der wahrnimmt andererseits, bestand seit anfangsloser Zeit und ist Teil des Musters der Anhaftung. Seit anfangsloser Zeit sind wir durch unsere Unzulänglichkeiten in Samsara gefallen. In der Vergangenheit, in der Zukunft und in der Gegenwart ist unser Geist in vielen Wesen sehr verspielt. Aber was die wahre Natur des Geistes anbelangt, so kann weder die Farbe des Geistes, noch seine Form, noch sein Ort, noch sein Bewußtsein genau festgestellt werden. Die Natur des Geistes ist jenseits all dieser Merkmale. Deswegen ist es in der Meditation wichtig, weder die Zukunft einzuladen, noch die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, sondern im Zustand der "Jetztheit" zu verweilen. Die Jetztheit des Geistes ist die Praxis, die Ihr alle entwickeln solltet. New York, USA, 1980. Aus dem Englischen von Detlev Göbel |
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